Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel ermuntert seine Leserinnen und Leser dazu, Bilder aus alten Familienalben anzuschauen, sich an die Zeit der Aufnahmen zu erinnern und diese Erinnerungen einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter des Magazins zu erzählen. Diese Erzählungen werden regelmässig im Magazin veröffentlicht.
D>er deutsche Autor Wilhelm Genazino hat regelmässig auf Jahrmärkten alte Ansichtskarten, Fotos und sogar ganze Bilderalben gekauft. Zu den Bildern hat er dann Texte verfasst, Geschichten erfunden, die in mehreren Bildbänden erschienen sind. Im Netz kann man heute ganze Fotosammlungen erwerben, Bilder, deren Geschichten man nicht kennt und zu denen man etwas phantasieren, erfinden kann. Ganze Berge von Geschichten warten darauf, hervorgeholt und erzählt zu werden. Es können auch die Bilder und Bilderalben sein, die sich im Lauf eines Lebens aufgetürmt haben. Unerzählte Bildergeschichten warten darauf erinnert und erzählt zu werden.
Familienalben sind nämlich voller Geschichten. Ob nun die Bildlegenden von Hand unter den jeweiligen Bildern eingefügt wurden oder ob die Bilder ohne Legenden daherkommen: Holt man nach Jahren ein Familienalbum wieder aus dem Büchergestell oder vom Kellerschrank hervor, kommen Erinnerungen auf. Nicht immer erkennt man alle die Personen wieder, die in Alben an einem vorbeigeblättert werden. Fotos in Alben stecken voller Geschichten: »Sie haben ein Bild, zu dem Sie uns Ihre Geschichte erzählen können? Schreiben Sie an: familienalbum@spiegel.de lautet die Aufforderung im Magazinteil Reporter.
Wie interessant Bilder aus Familienalben sein können und was dabei herauskommen kann, wenn man Bilder von früher wieder anschaut, lässt sich Woche für Woche im Magazin sehen. Und es regt an, auch wenn man die eigene Geschichte hinter einem Bild nicht publizieren mag. Christoph Kuhn aus Dresden zum Beispiel, hat ein Bild eingeschickt, auf dem er als 15 jähriger Junge zu sehen ist. Er hält ein Transistorradio in der Rechten, «Kofferheule» nannten sie damals in der DDR diese Geräte. Hinter ihm ist ein Personenwagen zu sehen. Und dazu erzählt er: «Das Foto entstand im Mai 1966 in unserem Dresdner Garten. Mein Bruder hat mich mit der Pouva Start aufgenommen, einer einfachen, preiswerten Sucherkamera für Bilder im Format 6 x 6 mit zwei Einstellungen für die Belichtungszeit und zwei für die Blende, Sonne und trüb. Im Hintergrund steht das Familienauto, der Moskowitsch 403 aus der Sowjetunion». Christoph Kuhn fallen beim Betrachten der Fotografie Erinnerungen über die Musik seiner Jugend in der DDR ein.
Spiegelleser John Douglas Van Sant hat dem Magazin eine Fotografie aus dem Jahr 1952 geschickt. Der Amerikaner hat als Junge in Wiesbaden gelebt, wo sein Vater als Offizier der amerikanischen Luftwaffe tätig war: Ein Familienbild mit Mutter, den Geschwistern und der deutschen Haushälterin. John Douglas’ Vater ist auf dem Bild nicht zu sehen. Ob er da gerade im Flugzeug unterwegs war? Oder war er der Fotograf, der das Familienbild aufgenommen hat? Sein Taschengeld, erinnert er sich Jahrzehnte später, gab er im Spielzeugladen aus für Modelleisenbahnen von Märklin. Als amerikanischer Junge habe er sich anders als die deutschen Jungens gefühlt. «Die Nachkriegsjahre in Deutschland? Die glücklichste Zeit meines Lebens» fällt ihm zum Bild ein.
Autor und Zeichner Tex Rubinowitz erinnert sich an einen Abend im legendären Hamburger Kiez-Lokal La Paloma vor fast 40 Jahren. Da ist er auf einem Bild mit den beiden berühmten Künstlern Markus Lüpertz und Jörg Immendorff zu sehen. «An die Decke war ein Spaten von Joseph Beuys geschraubt. Vermutlich der, mit dem er zwei Jahre zuvor in Kassel die erste von 7000 Eiben eingegraben hatte, anlässlich der Documenta 7. Der Flirt der Kunst mit dem Rotlichtmilieu war nicht ganz unreizvoll, zumal sich Immendorff wie ein Zuhälter gerierte».
Die Texte zu den Bildern erinnern an jene Texte, die das Tagesanzeiger Magazin während Jahrzehnten Samstag für Samstag unter dem Titel «Ein Tag im Leben» veröffentlicht hatte. Eine Reporterin oder ein Reporter des Zürcher Magazins hatte seinerzeit erzählen lassen, wie ein Durchschnittstag im Leben der interviewten Person aussieht. Der so entstandene Text wurde dann veröffentlicht, wobei der Hinweis «Notiert von» klar machte, dass hier eine Person den erzählten Text überarbeitet hatte. Das ist bei der Rubrik mit den Fotos von anno da zumal nicht anders. Redakteurinnen und Redakteure des deutschen Nachrichtenmagazins schreiben die Sätze anhand des Gesprächsverlaufs nieder.
Die Texte der Reihe «Familienalbum» sind auf der Homesite des Hamburger Nachrichtenmagazins für Abonnenten abrufbar. Sie geben Einblick in unspektakuläres bürgerliches Leben der letzten 60 Jahre. So auch die Fotografie von Spiegelleserin Bianca Rosenboom: Auf dem eingesandten Bild ist sie in ihrem Hochzeitskleid zu sehen. Sie sitzt vor einem Berg aus Müll im Recyclinghof der Stadt Mölln, schaut in die Kamera und sieht vergnügt aus. Ihr Hochzeitskleid? Ja, es ist das Kleid, das sie an ihrer ersten Vermählung getragen hat und Jahre nach der Scheidung immer noch im Kleiderschrank hängen hatte. Ihr zweiter Ehemann beharrte darauf, dass das Kleid aus dem Kleiderschrank verschwinden müsse, vorher sei er nicht bereit, sie zu ehelichen.
«Das Scheidungsshooting» heisst das Bild. «Die Idee, mit einem Scheidungsshooting einmal das Ende einer Ehe festzuhalten, kam mir da immer wieder. Durch die Ansage meines Verlobten, die eher ein Scherz war, habe ich es dann endlich gewagt». Es gibt ja immer wieder Paare, die unmittelbar nach vollzogener Scheidung zunächst gemeinsam im Restaurant essen gehen. Nicht so Bianca Rosenboom: «Es gibt unzählige Fotos von geschiedenen Frauen, die im Brautkleid Autos zertrümmern. Aber ich hege keinen Groll. Ich habe stets gesagt, Trennungen sind nicht nur dreckig. Man redet ja immer von einer Schlammschlacht, Aber Scheidungen sind auch bunt, eine Chance für etwas Neues».
Und noch ein letztes Bild. Die Fotografin Chino Otsuka, 51, hat sich zweimal auf ein Bild gezaubert. Beim Betrachten des Bildes sieht man auf einem Blick, wie die Zeit vergeht. Dazu die Fotografin: »Auf dem Bild bin ich zweimal zu sehen. Einmal rechts, als Zehnjährige, das war 1982 vor einem Pariser Café. Links bin ich 33 Jahre alt, das Foto habe ich in London aufgenommen und später hineinbearbeitet. Das Bild ist eine Zeitreise, wenn man so will». Anhand des Doppelbildes erzählt Fotografin Otsuka ihre Kindheit und Jugend zwischen zwei Ländern.
Das grosse Bild zeigt eine Sammlung von Bilderalben, in denen Erinnerungen stecken. Das kleine Bild: Eine Reise zu den norditalienischen Städten. Der Volkspoet hat einen Stand am Rande eines Marktes. Er behauptet, den Menschen ansehen zu können, wer sie sind und welchen Lebensweg sie vor sich haben. Was hat er dem Fotografen wohl erzählt?
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Möchte ich Ihnen einen Familienbeitrag aus der ungar. Geschichte 1956 mit Photo schicken. Wohin soll ich den Beitrag senden – Adresse?
Mit freundlichen Grüßen –
Wandtke-Feiler
07.04.´24