Florian Bachmanns Erinnerungsorte

Erinnerungsorte sind Orte, die im Gedächtnis von Personen, in der kollektiven Erinnerung, im «gemeinsamen Gedächtnis» immer wieder vorkommen. Erinnerungsorte sind identitätsstiftend für Kollektive. Schweizer Erinnerungsorte? Mir fällt die Hohle Gasse bei Küsnacht (SZ) ein. Oder der Tellsprung am Vierwaldstättersee im Kanton Uri. Und bei der weiteren Suche noch die Rütliwiese hoch oberhalb des Urnersees bei Seelisberg. Und wieder ist’s ein Ort in der Innerschweiz. Und alle diese Orte sind Zeugen weit zurückliegender Geschichte und Geschichten, egal, ob deren Ursprung verbürgt ist oder nicht.

Der Zürcher Fotograf Florian Bachmann hat sich mit der Kamera auf die Suche nach «ungewöhnlichen Erinnerungsorten» in der Schweiz begeben. Er hat Orte gesucht, an denen vor gar nicht so langer Zeit bemerkenswerte Begebenheiten stattgefunden haben, an die sich viele Menschen erinnern können. Bachmanns Erinnerungsorte sind verbunden mit besonderen Ereignissen, manche unter ihnen kommen in keiner Geschichte der Schweiz vor, sie evozieren aber Erinnerungen, wenn man ihren Namen erwähnt, hört oder sie auf einer Fotografie sieht. Rund dreissig dieser fotografischen Aufnahmen hat wobei, das Magazin der Wochenzeitung WOZ, mit erläuternden Begleittexten von Historiker Stefan Keller publiziert. Eine Einführung zum Magazin hat die bekannte Gedächtnisforscherin Aleida Assmann verfasst. Im Februar 2024 werden Bachmanns Aufnahmen aus dem Magazin  sowie gegen 50 weitere Bilder in einem der Ausstellungsräume im Max-Frisch-Kunst-Bad in Zürich zu sehen sein.

Was Bachmanns Schwarzweissfotografien ausmacht sind die Überraschungen, die sie bergen. Da findet sich unter den ersten Aufnahmen ein Bild von zwei Haustüren, die eng neben einander stehen. Die eine lässt sich nach links öffnen, die andere nach rechts. Die Hausfassade strahlt nichts Historisches aus, sie ist grob verputzt, die Türfassungen sind aus Metall, die Türplatten sind aus mattem Glas. Mehr ist auf dem Bild nicht zu sehen. Am Bildrand der Bildtitel in fetten Lettern «Doppeltüren» und darunter in feinen Buchstaben die Ortsbezeichnung Endingen AG. Oder ein anderes Bild aus Bachmanns Sammlung: Es zeugt eine gebirgige Felsmasse, etwas weiter im Hintergrund eindeutig, wenn auch nur mit Bauch und Hinterteil zu sehen ein Steinbock. «Steinbockschmuggel» lautet der Titel der Fotografie. Die Ortsbezeichnung ist St.Gallen. (grosses Bild) Und noch ein weiteres Beispiel: Ein lichter Wald, wenige dickere Baumstämme und viele dünne im Unterholz. Und in der Bildmitte mehrere von Moos bedeckte Betonkonstruktionen, sie sehen aus wie Brunnen. Sind es Brunnen für eine Kuhherde oder für Schafe? Sind es alte Gräber? Es bleibt ein Rätsel, auch wenn unter dem Bild das Wort «Tanklager» steht und darunter die Ortsangebe Eglisau (ZH). Man schaut die Bilder an, man liest die Namen der Ortschaften und sucht nach Erklärungen. Wie gut, dass diese Erläuterungen erst am Schluss des wobei Magazins stehen.so kann man rätseln, mit Freund*innen und Kolleg*innen weitersuchen.

Weshalb soll der Steinbock in den Bergen eine Erinnerung sein? Dazu Historiker Stefan Keller in seinem erklärenden Text am Ende des Heftes: «Als Ostschweizer Kind steht man irgendwann im St. Galler Tierpark Peter und Paul. Sieht die künstlichen Felsen mit echten Steinböcken, hört staunend, dass diese Art in der Schweiz hundert Jahre lang ausgerottet war und von hier aus wieder angesiedelt wurde. 1906 hatte man ein paar Jungtiere dem italienischen König geklaut, der in einem Jagdreservat eine letzte Herde hielt. In die Schweiz geschmuggelt und im Tierpark akklimatisiert, wurden sie, fast wie heute die Berggeier, in Kisten auf die Berge getragen. Mittlerweile darf Steinwild sogar wieder geschossen werden.»

Und die abgebildeten Doppeltüren? Sie gehen zurück auf jene Zeit, da Juden in der Schweiz einzig in den beiden Aargauer Gemeinden Lengnau und Endingen wohnen durften. Weil Juden Grundbesitz nicht zugestanden wurde, mieteten sie sich in den Häusern christlicher Bewohner ein und erhielten einen separaten Eingang zu ihrer Wohnung. Christen uind Juden wohnten so nebeneinander und doch getrennt. Das Bild von den Betonbecken aus Eglisau (kleines Bild) erinnert an die Zeit, da der Warenverteiler Migros unter der Erde Tanklager für Treibstoff am Rhein bauen liess in der Hoffnung, dass der Rhein schiffbar gemacht werden könnte. Da die Pläne für einen Rheinhafen in der Nähe von Zürich nie realisiert wurden, die unterirdischen Konstruktionen 1986 abgebaut. Zu sehen sind noch wenige oberirdische Reste.

Erinnerungen an Mineralöllager der Migros in Eglisau (ZH)

Fotograf Florian Bachmann hat sich in Archiven mehrerer Kantone nach Orten erkundigt, die als Erinnerungsorte definiert werden und die er aufsuchen könnte. Andere Erinnerungsorte wurden ihm von Freunden empfohlen. Ihm ging es darum, Details zu fotografieren, die den jeweiligen Ort zu einem Erinnerungsort von Gruppen oder Regionen gemacht haben könnten. Ihm ging es nicht um Postkartenaufnahmen, er zog nie mit Stativ los, wartete nicht auf den blauen Himmel und die schönste Beleuchtung. Manchmal musste er sich regelrecht auf dem Weg zu einem vorgesehenen Erinnerungsort im Kontakt mit Anwohern durchsuchen. So etwa auf dem Weg zu jener Stelle, wo Landesverräter Ernst S. , bekannt aus einem Film von Richard Dindo und einem Text von Niklaus Meienberg, erschossen wurde. Ganz präzis liess sich der Ort im Wald finden. Eine Anwohnerin begleitete Bachmann bis zur gesuchten Stelle.

So zeigen denn alle Bilder, die Florian Bachmann aufgenommen hat, nicht heroische Momente der Geschichte der Schweiz, sondern Alltags-Erinnerungsorte zu speziellen Ereignissen der Landesgeschichte der Neuzeit. Die späte Einführung des Frauenstimmrechts hat er mit einer Fotografie eingefangen, den Amoklauf im Zuger Regierungsgebäude hat er mit einem Bild versehen, den geplanten  -und nie realisierten – Bau eines Schweizer Kanals, der Rhein und Rhone verbinden sollte, ist fotografisch umgesetzt worden, die Internierungslager aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges kommen in der Bildersammlung vor sowie der Needle Park am Zürcher Platzspitz. Sie alle gehören zu den besonderen Erinnerungsorten, die Bachmann aufgesucht hat und fotografisch festgehalten hat. Noch sucht er einen oder zwei weitere Orte in der französischsprachigen Schweiz und im Tessin. Noch bevor seine Arbeit abgeschlossen ist, hat bereits ein Verlag sein Interesse an der Herausgabe eines Bild-Textbands mit diesen so anderen Erinnerungsorten gemeldet.

Beide Bilder von Florian Bachmann. Weitere Angaben zu fotografischen Arbeiten von Florian Bachmann: http://www.todofoto.ch/

Eingeworfen am 13.11.2023

1 Kommentar

  1. Eindrücklich diese Schwarz-Weiss-Bilder. Sie machen neugierig auf die Ausstellung. Bin gespannt. Und auch dies sei mal wieder gesagt, angesichts der Zeitumstände: Erinnerungsorte, wo auch immer, an was auch immer; sind dringend: nur sie erhalten lebendig, gerade auch das, was sich nie wiederholen darf: das Schreckliche.

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