Ich will kein Foto von Messapia

Die Schausfensterbeschriftung des Ladens Messapia in Genf

Autor: Michael Guggenheimer

Wenn die Erinnerung keiner Fotografie bedarf.

Messapia. So hiess das grosse Passagierschiff, mit dem meine Mutter und ich meine erste Heimat verlassen haben. Ein weisses Schiff, das grosse Kamin in Gelb und darauf prankt das Bild des Venezianer Löwen, der in die Ferne blickt. Die Messapia war ein Linienschiff der Triestiner Reederei Lloyd Adriatico, auf dem Mittelmeer regelmässig unterwegs zwischen Venedig und Alexandrien, Triest und Haifa. Und immer mit Halt in Bari oder Brindisi, in Piräus und draussen vor dem Hafen von Larnaka auf Zypern einen halben Tag ankernd. Ich kann mich noch gut an jene kleinen wankenden Motorboote erinnern, mit denen draussen vor Larnaka Passagiere zum Schiff gebracht wurden: Griechische Zyprioten unterwegs nach Athen. Bauchige prallgefüllte Koffer und festumschnürte dicke Kartonschachteln wurden auf Deck gehievt. Ich kann mich aber auch noch an die langsame Fahrt durch die Strasse von Korinth erinnern, jenem tief eingegrabenen Kanal zwischen Festland und Peloponnes. Hoch über uns fuhr gerade ein Zug über eine Brücke. Und ich bilde mir ein, dass zur gleichen Zeit hoch oben am Himmel ein Flugzeug zu sehen gewesen sei. Ob nun diese Erinnerung auch wirklich stimmt? Ich bin mir nicht so sicher. Auch an einen Landausflug in Brindisi meine ich mich zu erinnern. Oder war’s doch Bari?: In einer Pferdekutsche unternahmen meine Mutter und ich eine Fahrt durch die Innenstadt.

An Bord der Messapia gab es Coca Cola, meine allererste habe ich an Bord trinken dürfen. Und weil ich die für mich fremden Speisen an Bord nicht kannte und nicht mochte, ass ich zu Mittag und abends immer das gleiche Gericht: Ravioli. Unvergesslich mein Besuch beim Kapitän. Ich war elf Jahre alt und bewunderte damals alle Uniformträger. Eine weisse Uniform hatte ich zuvor nie gesehen. Wie leicht man sich auf den Wanderungen an Bord verirren konnte. Treppauf zum Sonnendeck, treppab zum Maschinenraum, wo man von oben schwitzenden Männern mit Ölkannen beim Warten der Maschinen zuschauen konnte. Und ich weiss noch, dass die beiden Kabinenluken nur knapp über Wasserhöhe lagen. Ich hatte Angst davor, das Fenster könnte plötzlich dem Druck des Wassers nicht standhalten und wir zwei, Mutter und ich, würden uns nicht mehr retten können.

Die Fahrt mit der Messapia liegt mehr als sechs Jahrzehnte zurück. Nur selten denke ich an jene fünf Tage von Haifa nach Venedig. Vor kurzem an einer stark befahrenen Strassenkreuzung in Genf schräg gegenüber dem neuen Bahnhof Genève-Eaux-Vives unerwartet an einer Ladenfront und an einem Schaufester den Schriftzug Messapia und darunter den Zusatz «Tresori del Salento» gesehen. Wie mich dieses Wort anzog! Wie kam der Schiffsname zum Laden? Das musste ich unbedingt in Erfahrung bringen!

Die Dosen, in denen die Panettones verpackt wurden

Ich überquerte die Strasse, betrat den Laden und fragte die Verkäuferin, die gerade daran war, die Auslagen in der Kühltheke einzuräumen, was der Name bedeute, wer Messapia sei. Messapia war für mich in all den Jahren ein weiblicher Vorname gewesen. Daran, dass das Wort etwas anderes bedeuten könnte, hatte ich wohl nie gedacht. Ich hatte die Erinnerung an das grosse Schiff wohl für mich eingekapselt, um nicht den Schmerz meines Heimatverlusts nochmals hochkommen zu lassen. Dass es einst ein Volk der Messapier gegeben haben könnte, wusste ich nicht. Auch nicht, dass eine Gegend im Süden Italiens um die Städte Tarent, Brindisi und Lecce Messapia heisst. Der herbeigerufene Ladenbesitzer konnte mit der Geschichte des Wortes Messapia und mit der Geschichte der Messapier kaum aufhören. Ein grosses Passagierschiff namens Messapia? Klar, das hätte es gegeben. Aber das sei schon sehr sehr lange her. Dabei blickte er mich an und versuchte wohl abzuschätzen, wie alt ich sei und vor wie vielen Ewigkeiten das her sein konnte, seitdem es dieses Schiff gegeben hat. Und dann stellte sich heraus, dass der Name Messapia nicht selten auf dem Bug eines Schiffes stehe. Messapia sei durchaus ein beliebter Name bei Segelbooten und bei Frachtschiffen. Und ich solle doch mal im Internet den Namen eingeben und dazu noch das Wort Schiff auf Italienisch, da werde ich staunen. Ich habe seinen Rat befolgt. Und ich habe «mein» Schiff Messapia zum allerersten Mal seit Jahrzehnten gleich mehrfach wiedersehen können: Für Fr. 6.- könnte ich eine Fotokarte erwerben, auf der «mein» Schiff zu sehen ist. Für etwas mehr Geld plus Versandspesen lässt sich Prospekt mit Fotografien der Kabinen ordern. Ich habe es mir überlegt, ich war knapp dran,

Ansichtskarte und Prospekt zu bestellen. Aber dann dachte ich, dass die Erinnerungsbilder genügen, ich keine Fotos benötige. Der Blick auf die Website eines Postkartenanbieters in Italien genügte mir. Man muss nicht von jedem und allem Fotos haben. Das sagte ausgerechnet ich, der ich tausende Fotos horte. Ich fand mich konsequent und mutig im Entscheid gegen die Ansichtskarte. Im Schaufenster des Genfer Spezialitätenladens standen bunte Metalldosen mit Panettone. Ich habe keine gekauft, sie wäre mir auf meinen Spaziergängen durch die Stadt zu gross. Aber ich werde mit dem Ladenbesitzer telefonieren und für Weihnachten zwei Panettone-Dosen bestellten. Und dazu meinen Enkelkindern die Geschichte der Messapia vorlesen.

Eingeworfen am 10.11.2023

1 Kommentar

  1. Wieder in nuce eine packende Geschichte; man möchte mehr wissen, sie nacherzählt hören, schon das eine Wort „Messapia“ hat etwas Magisches, etwas Geheimnisvolles, führt schon durch seinen Klang hinaus, in die Meere, auch in die der Phantasie, in die Welten des Erzählens.

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