Am Eingang zur Kornschütte in Luzern, wo regelmässig Ausstellungen aus dem Luzerner Kulturleben stattfinden, macht derzeit ein Plakat auf eine Ausstellung mit dem Titel «Photographie retouchée» aufmerksam. Auf dem Plakat ist eine Werbefotografie für eine elegante und teure Modelinie zu sehen: Ein Model mit teurer Armbanduhr und mit einer Design-Handtasche von Cartier. Was aussieht wie ein Plakat für eine Modeausstellung wirbt für eine Installation in der geräumigen Ausstellungshalle der Kornschütte, die alles andere als eine Haute- Couture-Ausstellung ist. Ganz im Gegenteil. Und während in Frankreich kommerzielle Fotos, auf denen die Figur eines Models digital verändert wurde, mit dem Hinweis «Photographie retouchée» gekennzeichnet sein müssen, sind die Fotografien, die in der Kornschütte gezeigt werden, weder retuschiert noch mit Photoshop bearbeitet worden.
Mehrere Fotografien in der Ausstellung zeigen Lagerstätten von Obdachlosen, eindeutig in Paris aufgenommen. Fotografiert hat sie der Luzerner Künstler, Herausgeber einer Kunstzeitschrift und Ausstellungskurator Stephan Wittmer. Auf Stadtspaziergängen während eines Aufenthaltes an der Cité internationale des Arts in Paris sind ihm immer wieder Obdachlose aufgefallen, die am Strassenrand, in Parks, in Hauseingängen oder unter Brücken unter Decken, Kunststoffplanen und Kartonflächen liegen und diese tagsüber stehen lassen, um gegen Abend wieder an ihre Schlafplätze zurückzukehren.
Es ist nicht das erste Mal, dass Stephan Wittmer sich mit dem Thema Obdachlose auseinandersetzt. In der Publikation Tin Can mit Fotografien von ausgedehnten Reisen durch die USA in den Jahren 2012 bis 2019, die im Vexer Verlag (Berlin und St.Gallen) erschienen ist, kommt das Thema bereits vor. «Grids and Shadows» heisst dort ein Bild, auf dem eine Bettdecke und ein Karton-Einkaufssack vor dem Gitter eines Ladens zu sehen sind. Es ist die Lagerstatt eines Obdachlosen, der tagsüber unterwegs in der Stadt unterwegs ist und abends zu seiner Decke zurückkehrt, um hier die Nacht zu verbringen.
Manchmal ist Wittmer in Los Angeles mit dem einen oder anderen Obdachlosen ins Gespräch gekommen. Fotografiert hat er sie nicht, aber sie haben ihn auch nach seinen Aufenthalten in Los Angeles und Paris immer wieder beschäftigt. Und so zeigt er in der Installation in der Kornschütte mehrere Bilder von Lagerstätten von Obdachlosen in Paris und platziert ihnen zur Seite Hinweise auf das Aufeinandertreffen von Armut und Reichturm in der Grossstadt, Reklame für teure Kleider- und Parfummarken neben Objekten, die zum Leben der Obdachlosen gehören. Da liegen auf dem Boden Wasserflaschen, Holzkohle für ein Wärmefeuer, ein Brotlaib, eine Petrollampe, Zündhölzer, Kunststoffplanen und Teppiche. Es sind Objekte, die zu den Nachtstätten der Obdachlosen gehören.
Fotografen aus der wohlhabenden Schweiz oder aus Deutschland fallen die Obdachlosen auf. Zwar hat Wittmer auch in Luzern schon Obdachlose gesehen. Aber so stark ist deren Präsenz nicht wie in den Metropolen Paris oder Los Angeles. Hanspeter Jost zum Beispiel, Fotograf in Zürich, hat sich auch mit dem Thema auseinandergesetzt. Jost hat während mehreren Monaten immer wieder das Nachtlager eines Obdachlosen fotografiert. 36 Bilder stellte er auf einer ungewöhnlichen und überzeugenden Art in der Photobastei in Zürich aus. Sie sind auf zerknittertem Papier gedruckt, das in drei Bahnen an der Wand hing und im ersten Moment wie eine Daunendecke aussah. Die Präsentation ähnelte dem fotografierten Nachtlager, wo der Obdachlose, seine Bettstatt jeden Morgen mit einer Daunendecke zudeckte. So wohlgeordnet hinterliess der Mann seinen Übernachtungsort als befände sich dieser in einer Wohnung. Alle 36 Aufnahmen hat Jost stets aus derselben Position aufgenommen, was der Bilderfolge die Note einer Studie verleiht. Ähnlich wohlgeordnet sehen auch die Nachtlager der Obdachlosen in Paris aus, die Stephan Wittmer fotografiert hat.
Im Gewerbemuseum Winterthur sind derzeit im Rahmen der Ausstellung «Perfectly Imperfect» Fotografien von Jana Sophia Nolle zu sehen. Die deutsche Fotografin hat für ihre Bilderserie «Living Room» in San Francisco die Unterkünfte von Obdachlosen in den Wohnungen wohlhabender Personen als nachgebaute Installationen re-inszeniert und das Ergebnis fotografisch dokumentiert. Entstanden ist einerseits eine Typologie improvisierter und provisorischer Unterkünfte, andererseits die Gegenüberstellung höchst unterschiedlicher Lebensrealitäten im Bild.
Eben diesen Ansatz der Gegensätze hat auch Stephan Wittmer für seine Installation gewählt. Seine Bilder im Format A 2 sowie im Grossplakatformat stellen Armut neben Reichtum. So etwa ein Standbild aus silbrig glänzendem Aluminium vor dem Pinault Privatmuseum in Paris und daneben die wohlgeordnete Matratzen-Lagerstatt und den Rollstuhl eines Obdachlosen. Oder eine harte Steinbank, auf der eine Bettdecke liegt, die einem Obdachlosen gehört, tagsüber seine Schlafstelle markiert. An einer anderen Ausstellungswand zeigt Wittmer Zelte in Pariser Parkanlagen, wie sie Fotografin Nolle in Wohnzimmern aufgestellt hat. Mit dem Unterschied, dass Wittmers Zelte auch wirklich in Gebrauch sind. Auch fehlen die Shopping-Einkaufswägelchen nicht, in denen Obdachlose ihre gesamte Habe tagsüber schieben. Zwei an einer Wand lehnende senkrecht stehende Teppiche warten darauf, abends wieder auf dem Steinboden ausgerollt zu werden. Sie sollen den schlafenden Obdachlosen etwas vor der Bodenkälte schützen. Eine andere Fotografie zeigt einen Obdachlosen, der ohne Decke und Plastikplane auf dem Trottoir einer Pariser Strasse eingeschlafen ist.
Die Ausstellung «Photographie retouchée» in der Kornschütte Luzern am Kornmarkt 3 dauert bis 28. Januar 2024. In der Zeitschrift _957 Independent Art Magazine Bilder aus der erwähnten Installation. (ISSN 2296-3057)
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