Zu einem anständigen Fotoband gehören auch Bildlegenden. Dass ein schön gestalteter Fotoband mit besonderen Fotografien auch ohne Legenden auskommen kann und sie nicht braucht, zeigt das handliche Buch «schön & glücklich» mit Fotografien von Mine Dal und Texten von Alice Grünfelder.
Mine Dal ist eine türkisch-schweizerische Fotografin in Zürich. «Everbody’s Atatürk» heisst ihr umfangreicher Fotoband, der im Jahr 2020 bei der Edition Patrick Frey in Zürich erschienen ist. In diesem Buch zeigte sie, wie Republikgründer Mustafa Kemal Atatürk in der Türkei omnipräsent ist. Sein Bild hängt überall: ob im Klassenzimmer oder im der Ortsverwaltung, ob im Restaurant, im Café oder beim Schuhmacher, ob an der Tankstelle, beim Bäcker oder im Lebensmittelladen: Atatürk ist überall, immer wieder Atatürk.
Wie anders ihre Bilder im neuen Buch. Menschen kommen in diesen Fotografien nur wenige vor. Und wenn sie zu sehen sind, dann am Rande oder als eine Schaufensterpuppe. Ein Spannungsbogen herrscht zwischen Mine Dals Fotografien und Alice Grünfelders Texten, handeln doch letztere von Menschen und ihren Beziehungen. Mine Dals stille Bilder zeigen weite Landschaften, Felder, städtische Innenhöfe, Spielplätze, entsorgtes Mobiliar und abgelegtes technisches Gerät. Es sind häufig Bilder des Dazwischen zwischen Landschaft und Stadt. Nicht wenige Bilder sind wohl in der Türkei entstanden, andere dürften in der Schweiz aufgenommen worden sein. «Das Fragile ist in der Türkei präsenter», meinte die Fotografin an der Buchpremiere. In der Schweiz sei vieles «gepützelt», in der Türkei treffe man mehr «Versehrtes» an.
Ist’s ein Wandbild von Recep Tayyip Erdogan, der uns da anschaut? Wo befindet sich die halboffene Telefonzelle im selben Bild? Wir wissen es nicht. Und es stört auch nicht, dass wir es nicht wissen. Irgendwo steht diese Telefonzelle. Und es ist irrelevant wo. Und die rote Backsteinfassade des Hauses Nr. 79 mit der grossen Fassadenschrift UTOPIA? Ein Nachtclub? Eine Diskothek? Als Bildbetrachter wird man so eingeladen, eigene Geschichten zu den Bildern zu ersinnen. Haben Kinder einen Turnbarren aus Baumstämmen und Ästen zusammengestellt? Oder ist’s vielmehr ein Kunstobjekt? Mine Dals stille Bilder, auf denen nirgendwo die Hektik einer Grossstadt zu sehen ist, lassen viel offen. War das Buch über Atatürks Präsenz gewissermassen eine lange thematische Serie von Bildern zu einem Thema, so lassen sich im neuen Buch Miniserien feststellen: einsame und etwas verloren stehende Zimmerpflanzen, lädierte Schaufensterpuppen, Innenhöfe, Spielplätze, entsorgte Sofas irgendwo in der Landschaft. Und auf einmal beim Durchblättern erscheint der etwas erschöpfte Mann, der auf einem Hochstuhl an einer Bartheke sitzt und döst. Und fast zum Schluss dann ein Strandbild mit mehreren Bastmatten auf Kieselsteinen oder Muscheln und einer Frau, die in der prallen Sonne liegt.
Autorin Alice Grünfelder, früher Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute, meint zum gemeinsamen Buch: «Noch kann ich es kaum glauben. Nach fünf Jahren, nach dem immer wieder neuen Kombinieren von Text und Fotografie, dem Überarbeiten, dem Weglassen und Hinzufügen, dem Überdenken und neu schreiben, der Verlagssuche, feiern wir, Mine Dal und ich– unsere erste gemeinsame Publikation ‘schön & glücklich’. «Hinter dem Titel könnte durchaus ein Fragezeichen stehen», fügt sie an. «Denn genau um die Hinterfragung dieser gesellschaftlich erwünschten, aber unerquicklichen Ziele geht es uns». Und weiter meint sie , das Buch skizziere in Text und Bild einen Lebensbogen, der Abgründen entlanggleite. «Von der Kindheit übers erste Verliebtsein bis hin zur schmerzhaften Trennung und inneren Schönheit im Alter».
Autorin und Fotografin sind seit langem befreundet. Wenn Mine Dal früher Alice Grünfelder eine Mail schickte, dann fügte sie jeweils eine Fotografie bei. Diese Bilder und insbesondere eine Bilderreihe von Zimmerpflanzen, die etwas verloren dastehen, haben Alice Grünfelder zu Texten animiert. Dem Entschluss, gemeinsam eine Publikation zu machen, folgten Treffen, an denen die Fotos auf grossen Tischen ausgebreitet, ausgesucht und mehrmals neu geordnet wurden, damit jene Bilderfolge entstehen konnte, die den beiden am besten gefiel. Nicht wenige Bilder geben Rätsel auf, führen beim Betrachten zu neuen Assoziationen.
Wie Mine Dals Bilder entstanden sind? Im Gespräch mit Fotoredakteurin Nadine Olonetzky anlässlich der Buchtaufe in Zürich sagt Mine Dal: « Ich stolpere über das, was ich sehe. Wenn ich etwas Irritierendes sehe, dann drücke ich ab». Sie sei nicht mit der Absicht unterwegs, Bilder einer Serie zu machen. Vielmehr ergeben sich diese Bilder beim Flanieren. Die Texte sind keine Erläuterungen zu den Fotografien, sie kommentieren sie nicht, sondern seien eigenständig Teil der Doppelpublikation. Es sind Kürzestgeschichten, längere Kurzgeschichten, Aphorismen und Haikus. Manchmal abgründig und angeregt von den Fotos.
Das Buch «schön & glücklich» ist im Berner Verlag songdog erschienen. ISBN 978-3-903349-20-9
Beide Bilder von Mine Dal aus dem vorgestellten Buch.
Eingeworfen am 10.9.2023
Das klingt nach einem wirklich faszinierenden Buch, das durch seine Offenheit zum Nachdenken und zur eigenen Interpretation anregt. Die Idee, dass die Fotografien keine Erklärungen benötigen und Raum für eigene Assoziationen lassen, finde ich besonders spannend. In meinem eigenen Garten habe ich auch kürzlich etwas Ähnliches erlebt: Beim Bau unserer neuen Gartenmöbel bin ich über Materialien gestolpert, die mich auf Ideen für neue Designs gebracht haben, ganz ohne festen Plan. Manchmal ergeben sich die besten Dinge eben im spontanen Fluss. Ich freue mich darauf, „schön & glücklich“ zu lesen und eigene Geschichten zu den Bildern zu ersinnen!