Schriftstellerin Esther Kinsky hat über längere Zeit in mehreren Ländern gelebt. So auch in einer Kleinstadt in Ungarn. Sie ist eine Filmekennerin, hat eine Schwäche für Kinos und ist zudem eine Fotografin: In ihren Romanen sind immer wieder Fotos zu sehen, die sie aufgenommen hat. Im neusten Buch kommen Fotografien vor, solche, die im Buch abgedruckt sind und solche, die die Autorin beschreibt.
In einer Kleinstadt im Südosten Ungarns nahe der rumänischen Grenze verliebt sich die deutsche Autorin Esther Kinsky in ein altes Kino, in dem seit Jahren keine Vorstellungen mehr stattfinden. Das Kino, ungarisch „Mozi“, erbaut in den 50er Jahren, ist für ein Provinzkino viel zu gross, der Saal ist heruntergekommen, die Wände sind schimmelig. Kinsky, eine Kino- und Fotografiebegeisterte, erwirbt das Gebäude. Mit der Hilfe von Handwerkern renoviert sie den Saal und findet in Budapest einen Spezialisten, der die alten Projektionsapparate wieder in Gang setzt. Kinsky ist Meisterin in der Natur- und Menschenbeschreibung: Sie beschreibt die Panonische Tiefebene, den monotonflachen Süden Ungarns, die kleine Stadt, aus der die Jungen wegziehen. Ihre Liebe zum Kinofilm kann sie ausleben, wenn sie Lieblingsfilme den Kinobesuchern vorführt. Nachdem das stillgelegte Kino wieder neues Leben erhalten hat und nach einem Weiterverkauf des renovierten Gebäudes verlässt sie die kleine Stadt, um mehr als zehn Jahre später wieder dorthin zu fahren und zu sehen, was aus ihrem Kino geworden ist. In Kinskys Büchern finden sich immer wieder Fotografien, die die Autorin gemacht hat.
Im Buch «Weiter Sehen», das eine Mischung zwischen Roman und Essay ist, kommt die Auseinandersetzung der Autorin mit der Fotografie immer wieder zum Zug. Auf der Fahrt durch den flachen Süden Ungarns notiert Kinsky: «Ich war aufgebrochen in der Hoffnung, fotografieren zu können, doch in dem trotz der Trübe blendenden Licht des Tages liess sich kaum etwas ausmachen, das ein Bild ergab. Kein Stück, das sich aus dieser Weite, der Flachheit, der Leere schneiden liess, ohne dass etwas ganz Wesentliches am Bild verloren ginge. Was war dieses Wesentliche, das sich keinem Rahmen fügen wollte, das sagte: gilt nicht, wenn der quadratische Sucher sich um einen Ausschnitt schloss? Ich kam nicht dahinter und je mehr ich sah, desto unmöglicher wurde mir die Vorstellung, einen Teil dieser Landschaft, die nur einen schmalen Streifen unter einem riesigen Himmel ausmachte, im Foto auszuschneiden und zum Ganzen zu erklären».
Was Bilder, die man einst gesehen hat, auslösen können, beschäftigt Kinsky ebenso: «Auf Schritt und Tritt weckte diese mir völlig unbekannte Landschaft und Gegend Erinnerungen oder vielmehr Bilder, die aus einem tiefen Fundus emporstiegen, wo etwas abgelegt war, was ich gesehen und nicht unbedingt erlebt hatte, aus Filmen, Büchern, alten Fotoalben».
Nachdem Esther Kinsky das heruntergekommene Kinogebäude entdeckt hat, das sie später renovieren lassen wird, trifft sie auf Julika, die mit dem früheren Filmvorführer des Kinos liiert war. Auch hier spielen Fotografien eine Rolle: «Im Abenddämmer kam Julika zu mir herübergeschlurft und legte einen abgegriffenen Briefumschlag auf meinen Tisch. Das war mein Kinomann, sagte sie erklärend. Es waren alte Fotos, glatt und glänzend, mit schönen, leicht vergilbtem Stanzrahmen. Auf einem eine junge Julika mit dunklem Haar und Pagenschnitt, auch damals schon mit Brille, sie posierte lächelnd neben einem schnauzbärtigen Mann in Nadelstreifenanzug, der stolz eine Filmspule vor dem Bauch hielt. Auf allen Fotos, es waren vielleicht ein Dutzend, war er abgebildet in Arbeitskleidung vor einer Werkbank mit Julika vor einem Filmplakat, auf dem sich ein Karussell erkennen liess, mit anderen Herren in Anzug».
Esther Kinsky hat ein emotionales Verhältnis zur analogen Fotografie. Beim Aufräumen im alten Kino stösst sie auf alte Kinofilmstreifen und Fotografien: «Der Gedanke, diese ausgedienten Filmstreifen wegzuwerfen, widerstrebte mir genauso wie das wegwerfen von Negativen, selbst von Fotografien, die ganz unbrauchbar waren und von denen ich nie einen Abzug herstellen würde, die aber dennoch diese geheimnisvolle Möglichkeit wachhielten, es könne sich eines Tages auf ihnen etwas abzeichnen und enthüllen, nach dem ich schon lange gesucht hatte».
Beschreibungen sind eine grosse Stärke von Esther Kinsky: «Olga kam ganz in Pelz gehüllt, um mir eine Fotografie zu zeigen, auf die sie in ihrem Haus gestossen war, mir schien, sie habe nach Belegen ihrer Zeit als Büffetdame im Kino gesucht, als müsse sie sich selbst von ihrer Vergangenheit überzeugen. Es war eine kleine quadratische Fotografie mit weissem Rand, ein etwas verblasstes, angegilbtes Schwarzweiss, doch von einer grossen Schärfe, die die Gesichtszüge einer jungen Olga und eines Jungen neben ihr, unschwer als ein linkisch-jugendlicher Jozsi zu erkennen, so deutlich hervortreten liess, wie es bei alten Objektiven üblich war, die mehr die Tiefe im Blick hatten als die Oberflächenschärfe, der kaum ein Auge gewachsen ist. Olga und Jozsi standen in Winterkleidung vor einem grossen Eisenofen im Foyer des Kinos, wie ich ausmachen konnte, die eckigen Säulen waren dieselben, im Hintergrund erkannte man die Eingangstür, draussen herrschte Dunkelheit. Eine verschwommene Gestalt ganz in Dunkelgrau huschte gerade nach links aus dem Bild. Das, sagte Olga, war Laci, der Vorführer, der nicht gerne fotografiert wurde. Mein Platz ist am Zelluloid, nicht drauf, sollte Vorführer Laci gern gesagt haben, und so blieb er ein fliehender Schatten auf den wenigen Fotografien, die ihn überhaupt erwischten, eine Rätselgestalt, in der man erkennen mochte, was man sich wünschte und vorstellen wolle».
In ihrem Buch «Weiter Sehen» erwähnt Esther Kinsky den Namen der Ortschaft, in der das Kino steht, nicht. Aber in einem Interview mit dem Goethe Institut in Budapest nennt die Autorin, die in Deutschland, Kanada, Italien und Ungarn gelebt hat, den Ort und die Bedeutung, die Ungarn für ihre eigene Fotografie hatte: «Ich bin in der glücklichen Lage, unterschiedliche Länder und Wohnorte einfach ausprobieren zu können. Mit der Zeit gewöhnt man sich dann eine Vorstellung von fester Zugehörigkeit und Heimat ab. Das weitet den Blick, ich bin gerne fremd an einem Ort. Ungarn hatte mich schon lange interessiert, die Sprache, die Art, wie sich das Leben in der Kunst artikuliert. Batonya war ein großer Zufall, ich war eigentlich eher aus Versehen dort, und dann hat es mich so fasziniert. Ungarn war sicher das Land, das meine Tätigkeit, mein Sehen, mein Schreiben, auch mein Fotografieren am meisten geprägt hat. Das kann man gar nicht analytisch erklären. Die politische Situation macht mir große Angst, sonst würde ich sicher gerne nach Ungarn zurückkehren.
Esther Kinsky, Weiter Sehen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
(Das kleinere Bild stammt aus dem beschriebenen Buch von Esther Kinsky. Aussenaufnahme des Kinos in der Kleinstadt Batonya. Fotografiert von der Autorin).
Eingeworfen am 4.5.2023
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