Fotos legen Spuren

Ein Fotoautomat, in dem man Passbilder erstellen kann

Autor: Michael Guggenheimer

Zwei Männer stehen im Zentrum des neuen Romans «Die Leben des Jacob» des französischen Autors Christophe Boltanski. Der eine lebt, der andere ist vor einigen Jahren gestorben. Oder stehen die beiden doch nicht im Zentrum des Buches? Ist’s eine Sammlung von Fotos, die alle in Fotoautomaten in Metrostationen, an Bahnhöfen oder an Flughäfen verschiedener Städte aufgenommen wurden? Eine Filmproduzentin hat die Bilder auf einem Flohmarkt gesehen und gleich zugepackt: Ein Album mit 367 Porträts aus Passfotoautomaten in Schwarz-Weiss und zwei in Farbe. Und immer ist es dasselbe Gesicht, ist es derselbe Mann, der auf dem Drehstuhl und hinter dem Vorhang in der engen Kabine des Fotoautomaten sitzt, auf das mehrmalige Blitzlicht wartet und der nicht wenige Male eine besondere Grimasse macht, eine neue Frisur trägt, eine spezielle Mütze oder einen Hut auf hat, mal elegant gekleidet, mal nicht. Die Filmproduzentin hat das Album an den Autor weitergegeben mit dem Auftrag, daraus ein Exposé für eine Filmgeschichte  zu schreiben.

Jacob B’chiri heisst der Mann, den eine Bildersucht in die Photomatons zieht, Jahre vor dem Zeitalter der Mobiltelefone und Selfies. Die Bilder sind im Album eingeklebt. Und erst als sich einzelne Bilder loslösen, werden Adressen auf der Rückseite der Fotos und auf Gepäcketiketten der israelischen Luftlinie El Al sichtbar. Es sind Privatadressen, keine Hotels, an denen sich der Fotografierte wenige Tage, mehrere Wochen und manchmal sogar Monate aufgehalten hat. Und jede dieser Adressen weist die Abkürzung c/o auf.

Notizen auf der Rückseite der Passbilder geben Auskunft über Stimmungen des Fotografierten. Erzähler Boltanski aber will mehr wissen, will erfahren, wer dieser so häufig Fotografierte ist, weshalb er von Adresse zu Adressen reist, um in Rom, Paris und Marseille, Basel, Genf, Djerba und Jerusalem an all jenen Adressen Jacob B’chiri sucht und Menschen begegnet, die sich Mal stärker, Mal schwächer an Jacob erinnern.

Aus dem Filmdrehbuch wird nichts. Ist’s ein Roman oder ist’s eine Recherche, die der Journalist und Romancier Boltanski verfasst hat? Gewiss eine Mischform, ein Dazwischen. Weshalb hat Jacob B’shri Spuren gelegt? Man schwankt bei der Lektüre und erinnert sich an ähnliche Fotoautomatengeschichten aus Frankreich. Ähnlich wie in manchen Romanen des Franzosen Patrick Modiano, der ebenso wie Boltanski immer wieder den Fährten einer Fotografie folgt. Und dann kommt eine zweite Erinnerung beim Lesen: Da handelte doch im Film «Die fabelhafte Welt der Amélie» auch von einem Nino, einen Fotosammler! Automatenfotos haben nicht nur Christophe Boltanski oder die Filmemacher von Amèlie angeregt. Von Michel Folco, einem Franzosen, der Automatenfotos gesammelt hat, handelt auch der Text «Auf der Suche nach Automatenfotos»

Man liest Boltanskis Buch und es bleibt die Frage: War’s die Freude an der Verwandlung, der diesen Mann von Fotokabine zur nächsten getrieben hat? Steckt eine traumatische Erfahrung im Leben des umherirrenden Jacob, der rastlos seine Domizile wechselt? Handelt es sich um einen Geheimdienstagenten? Manche Passagen dieses Buchs ähneln einem Kriminalroman.

Christophe Boltanski, Die Leben des Jacob. Roman. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Carl Hanser Verlag, München . 308 Seiten

Eingeworfen am 17.4.2023

1 Kommentar

  1. Ich habe das Buch eben fertig gelesen und bin begeistert

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte Sie auch interessieren

Fotos vom «Mozi»

Fotos vom «Mozi»

Schriftstellerin Esther Kinsky hat über längere Zeit in mehreren Ländern gelebt. So auch in einer Kleinstadt in...