Grabsteine zwischen Bäumen

Grüber in einem alten jüdischen Friedhof in Polen

Autor: Michael Guggenheimer

Marcel Herbst fotografiert seit vielen Jahren in Polen und in der Ukraine alte jüdische Friedhöfe, die niemand mehr aufsucht und in denen niemand mehr beerdigt wird.

Kommt man in einer Runde auf alte jüdische Friedhöfe zu sprechen, dann ist schnell die Rede die vom alten jüdischen Friedhof von Prag. Dieser Friedhof, in allen Pragführern erwähnt, ist ein Touristen-Muss. Und er steht für andere Friedhöfe. Dass es unzählige kleinste, kleine und grosse jüdische Friedhöfe in Europa gibt, ist vielen nicht bekannt. Alleine im deutschen Bundesland Hessen gibt es 350 jüdische Friedhöfe, die zum Teil älter als 300 Jahre alt sind. Vorwiegend handelt es sich bei ihnen um Landfriedhöfe.

Einer, der sich seit Jahren fotografisch intensiv mit alten jüdischen Friedhöfen befasst, ist Marcel Herbst aus Zürich. Zum dreizehnten Geburtstag erhielt er eine erste einfache Brownie Boxkamera. Seitdem fotografiert er und setzt sich mit der Fotografie als Dokumentationsmedium auseinander. Auf seinen ausgedehnten Reisen während eines mehrjährigen Arbeitsaufenthalts in Afrika begleitete ihn eine Widelux F7 mit Klenbildfilm Format 24 x 56 . Und es versteht sich von selbst, dass der Mann, der eine Dunkelkammer besitzt, Filme benutzt, obschon er sich in digitalen Fragen bestens auskennt. Der studierte Architekt, Siedlungsplaner und Umweltwissenschaftler kennt sich in der Fotografie so aus wie langjährige professionelle Fotografen. In sechs Reisen in Westafrika hat er aberhunderte Bilder gemacht, in denen das Leben der Menschen in Nigeria, Ghana, Senegal und Mauretanien zu sehen ist. Alpine Landschaften und „vernacular architecture“ (lokale Architekturformen) bilden weitere Schwerpunkte seiner Fotografie.

Im Alter von etwa achtzehn Jahren fotografierte er – damals mit einer geliehenen Rolleiflex – zum ersten Mal in einem jüdischen Friedhof. Was ihn als Thema erstmals in Endingen im Kanton Aargau zu interessieren begann, setzte sich später auf Reisen im Elsass fort, wo gegen 60 alte jüdische Friedhöfe stehen. Marcel Herbsts Vorfahren stammen aus Polen und der Ukraine. Eine Reise mit seiner jüngeren Tochter nach Polen im Jahr 2005 steht am Beginn weiterer Reisen nach Polen und in die Ukraine. Kongresse, an denen er teilnahm, Stadtbesuche und Fahrten im Auto über Land führten ihn immer wieder zu alten, nach der Shoa nicht mehr genutzten Friedhöfen. Klettergeübter Alpinist, der er ist, musste er wiederholt über Friedhofsmauern klettern, um seine Bilder machen zu können. So gut kennt Herbst seine professionelle niederländische Grossformatkamera Cambo Wide mit einem Schneider Super Angulon Objektiv, dass er sogar ohne aufgesetzten Sucher genau weiss, was seine Kamera «sieht», was sie erfasst, wenn er sie auf dem Stativ gesetzt hat. Eigenheit des benutzten festen Objektivs ist die Schärfe des Fotografierten von nah bis in die Ferne.

In einer Ausstellung in den Räumen der Stiftung Binz39 in Zürich im Februar 2023 zeigt Herbst Schwarz-Weisse Bilder aus Polen, der Ukraine und der Slowakei. Zur Ausstellung veröffentlichte er auch in englischer Sprache ein Buch mit dem Titel «Essays and Photography on Jewish Matters», in dem er sich einerseits mit dem Thema Fotografie und andererseits mit seinen Erkundungen zur früheren jüdischen Präsenz in Polen und der Ukraine auseinandersetzt. Faszinierend die Bilder in der Ausstellung und in der Publikation. Die meisten Bilder hat er als Triptychen vergrössert, was ihnen eine besondere künstlerische Anmutung verschafft.

Einer der jüdischen Glaubensgrundsätze, die Unantastbarkeit der Totenruhe, führte dazu, dass jüdische Gräber und Grabmale über Jahrhunderte erhalten blieben, dass die jüdischen Friedhöfe über Generationen hinweg „wuchsen“, während auf anderen Friedhöfen immer wieder – nach Ablauf von Ruhefristen – Gräber geräumt werden. Die lange Geschichte der jüdischen Friedhöfe hat zur Folge, dass sie häufig wie verwilderte kleine Wälder wirken. Das führt dazu, dass die Gräber Teil der Umgebung werden, die Nähe und Gleichzeitigkeit von Natur und Grabsteinen eine besondere Stimmung auslöst.

Der Fotograf Marcel Herbst in seiner Ausstellung

Marcel Herbst zeigt Fotos von Grabsteinen mit hebräischen Inschriften, die bis zu 300 und mehr Jahre alt sind. Die Natur und die Gräber sind im Laufe der Jahrhunderte eine Verbindung eingegangen. Manche Friedhöfe sind mit den Jahren zu versteckten Waldfriedhöfen geworden, die kaum jemand mehr beachtet. Laub bedeckt viele Gräber, die zwischen hochgewachsenen Bäumen liegen. Gebüsche verdecken die Gräber. Manche Grabsteine stehen schief, andere sind eingesunken und schauen knapp nur aus der Erde heraus. Die jüdische Tradition, wonach man beim Besuch eines Grabes ein Steinchen auf dem Grabstein hinlegt, wird hier nicht mehr gepflegt, weil die Juden, die hier einst gelebt haben, entweder von den Deutschen vertrieben und ermordet wurden oder im Zeitalter des Kommunismus verfolgt wurden. Marcel Herbsts Fotos aus Polen sind Bilder von stillen Waldlandschaften mit Gräbern. Manchmal ist ein Weg zwischen den Gräbern erkennbar. Andere Male musste sich der Fotograf einen Weg durch hohen Farn bahnen. Manche Grabsteine sind von Efeu überwuchert. Will man die Inschriften lesen, muss man Gartenwerkzeug und Bürste mitbringen, um Grabsteine von Moos zu befreien. Immerhin sind diese Zeugen jüdischer Präsenz noch vorhanden. Die Schweizer Fotografin Françoise Caraco zeigt in ihrem Bildband «Hidden Istanbul» was jüdischen Grabsteinen auch passieren kann: musste doch ein jüdischer Friedhof in Istanbul einer Schnellstrasse weichen und wurden die ausgehobenen Grabsteine beim Bau von Häusern verwendet.

Zusätzlich zu den Friedhofsbildern hat Marcel Herbst auch ehemalige Synagogen und Häuser fotografiert, in denen Juden einst gewohnt haben. Manche dieser ehemaligen Synagogen bestehen nur noch aus Fassadenmauern, weil sie entweder zerstört wurden oder einfach am Zerbröckeln waren. Andere ehemalige Synagogen sind an einem Davidstern zu erkennen oder am Fehlen der Gesetzestafeln aus Stein hoch oben an der Fassade. Die geschlossenen Fensterläden weisen darauf hin: Hier wohnen keine Juden mehr. Heute wohnen weniger als 10 000 Juden in Polen. Nach dem ersten Weltkrieg lebten noch etwa 3 Millionen Juden in Polen. Im Holocaust wurden etwa 90% der Juden von den deutschen Besatzern umgebracht. Von den Überlebenden des Zweiten Weltkrieges emigrierten viele polnische Juden nach Israel. In den Jahren um 1960 war es zu einer Emigrationswelle als Antwort auf staatlich geförderten Antisemitismus gekommen.

Eingeworfen am 31.1.2023

Die Ausstellung mit den Fotografien von Marcel Herbst bei der Stiftung Binz39 am Sihlquai 133 in Zürich dauert bis 19. Februar 2023. Am Sonntag, 5. Februar um 19 Uhr sprechen Karen Roth und Marc Bundi mit Marcel Herbst über seinen Werdegang, seine Photographie und sein essayistisches Schreiben. Das erwähnte Buch «Essays on Photography on Jewish Matters» ist erschienen bei HEFTN Edition.

2 Kommentare

  1. Interessant und fesselnd ist das Thema der jüdischen Friedhöfe. Das unauslöschliche Zeichen der Anwesenheit dieses Volkes in so vielen Ländern, die es aus verschiedenen Gründen, die alle schrecklich waren, verlassen musste. Ich erinnere mich jetzt an die beiden jüdischen Friedhöfe in Havanna, wo ich einige Stunden damit verbrachte, zwischen den weissen Marmorgrabsteinen zu fotografieren. Viele von ihnen sind mit Porträts aus Emaille verziert: Gesichter und Blicke der Verstorbenen, die mir das Gefühl gaben, von ihnen umsorgt zu werden. Danke.

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  2. Schöner Text. Er macht an, die Bilder von Marcel Herbst zu besuchen und so das vom Besuch in Prag erhaltene Bild zu ergänzen und zu erweitern. Auch die Erinnerung an die Reinigung des alten jüdischen Friedhofs im Buch „Dunkelblum“ von Eva Menasse wird sicher noch „farbiger“.

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