Es gibt ein Bild von uns beiden. Mein amerikanisches Fahrrad, darauf meine Schwester und ich. Sie sitzt auf dem Sattel und ich auf dem Rahmenrohr. Als ob es ihr Fahrrad sei. Dabei hatte Grossvater mir das Rad geschenkt. Und ich war stolz, weil niemand im Quartier ein rotes amerikanisches Rad mit breiten Profilreifen besass. Es gibt eine weitere Fotografie von uns beiden. Wir sind in der Sukkulentengärtnerei des Grossvaters. Meine Schwester, sie ist acht Jahre älter als ich, hält eine schwere Giesskanne und giesst sorgfältig eine Kaktee. Ich stehe daneben. Ich schaue zu. Ich bin der kleine Bruder, ich bin vielleicht sieben Jahre alt, meine Schwester schon fünfzehn. Auf der Rückseite der beiden Bilder steht nichts, keine Angabe des Datums. Und noch ein Bild ist da: eine weitere Fotografie in Schwarzweiss. Ich mit Zipfelmütze und Plastikeimer und kleiner Spielzeugschaufel in der Hand. Wir sind in einem Park, ich spiele im Sandkasten, meine Schwester schaut mir zu. Ich habe meine Schwester nie überholen können. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, wurde sie in die Armee eingezogen und kam an Wochenenden mit einer Maschinenpistole, einer Uzi, nach Hause. Ich träumte von Militärjeeps, ich war Kommandant, wir fuhren durch die Negevwüste, von der meine Schwester beim Abendessen erzählt hatte. Manchmal brachte sie einen Freund mit, einen Mann in Uniform, verschwitzt und ungekämmt. Meine Soldaten mussten alle sehr gepflegt aussehen. Als ich mit der Schule fertig war, lebte meine Schwester schon in den USA. Als ich die Fahrprüfung machte, fuhr sie bereits einen eigenen Oldsmobile. Als ich meinen Körper richtig zu entdecken begann, nahm sie die Pille. Als ich europäische Städte aufsuchte, trafen ihre Ansichtskarten aus Ladakh und Kambodscha ein. Jahre später war meine Schwester stark übergewichtig, sie konnte keine weiten Spaziergänge bergauf machen. Die Zeit der Wanderungen war endgültig vorbei. Nach dem Essen beim Kaffeetrinken, wenn sie auf dem Sofa sass, fielen ihr die Augen regelmässig für eine Weile zu. Meine Schwester hatte mit sechzig einen starken Raucherhusten und Atembeschwerden, sie musste Süsswaren meiden und Orte in den Bergen. Jetzt lebt sie nicht mehr. Aber Fotos erinnern mich an sie. Sie war schon immer weiter als ich.
Eingeworfen am 29.6.2022
Ein schönes Medaillon aus der Kindheit, das pars pro toto im Kopf des Lesenden zu einer Kürzestgeschichte wird, die bleibt und nach weiteren Bildern ruft.
Drehe bitte noch ein paar Runden auf deinem Fahrrad und setze ohne Rücksicht auf die Frisur einen Helm auf.