Seit fast dreissig Jahren fotografiert Roger Wehrli regelmässig in Italien. Jetzt ist sein zweiter Bildband mit Fotoimpressionen aus Italien erschienen.
Lange waren Fotograf Roger Wehrli und Journalist Leonardo La Rosa ein publizistisches Zweiergespann, das regelmässig für die Wochenendbeilage der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) in Italien auf Reportage unterwegs war. Ihr Interesse für Italien und die Liebe zu diesem Land haben nach der Einstellung des samstäglichen Reportagenteils der Zeitung der Ära von Redaktorin Margret Mellert im Jahr 2008 nicht nachgelassen. Nach einem ersten Bildband mit dem Titel «Pensione Italia» hat Roger Wehrli vor kurzem ein weiteres Buch mit dem Titel «Mezzogiorno» mit Fotos aus Italien und einem Text von La Rosa veröffentlicht. Diesmal gilt das Augenmerk des Fotografen dem «Mezzogiorno», dem südlichen Teil des Landes sowie Sizilien oder jenen Regionen, die einst das «Königreich beider Sizilien» der Bourbonen gebildet haben.
Befragt, weshalb es ihn eher in den Süden und speziell nach Italien ziehe, fallen Wehrli gleich mehrere Gründe ein. Die Zuneigung zu Italien müsse wohl bereits in der Kindheit begonnen haben, als es die Eltern mit den Kindern immer wieder in den Ferien nach Italien gezogen habe. Die Landschaft, die Sprache, die Geschichte, die Kultur und nicht zuletzt die Küche Italiens hätten immer eine Anziehung auf ihn ausgeübt. «In Italien hat man immer wieder das Gefühl, die Lage werde wieder schlimmer oder gar hoffnungslos. Aber dann geht es wieder und weiter. Immer wieder», sagt Wehrli und lacht. Und dann gebe es noch einen persönlichen Link zum südlichen Nachbarland: Seine langjährige Partnerin ist italienischer Abstammung. Ihr Vater sei in die Schweiz gezogen, um hier zu arbeiten und um dann auch hier zu bleiben. «Je mehr man von einem Land sieht, umso mehr Fragen hat man an das Land» konstatiert Wehrli nach seinen wiederholten Reportagen- und Fotografier-Aufenthalten in Italien. Seine erste Bildreportage aus Italien hat er für die NZZ im Jahr 1993 publiziert, in jenen Tagen als Berlusconi Präsident wurde und dazu noch ausgerechnet in Salò.
Italienkenner Leonardo La Rosa beschreibt es deutlich in seinem einführenden Text im neuen Bildband mit dem Titel «Mezzogiorno»: Fotograf Roger Wehrli habe in den Stammlanden von Cosa Nostra, Camorra und Ndrangheta Aufnahmen gemacht, die ein einheimischer Fotograf kaum zu machen gewagt hätte. Ist es seine freundliche und nicht minder dezidierte Art oder die Tatsache, dass er als Fremder erkennbar ist, dass er so viele Menschen, unter ihnen wohl auch Mafiosi und Mafiajäger, ungestört hat fotografieren können? Roger Wehrli ist kein vorbeieilender Fotograf. Vielmehr strahlt er bei seinen Bilderkundungen eine Ruhe aus, geht auf Leute zu, nimmt sich Zeit, um seine Bilder zu machen. Man sieht den Bildern jene Geduld an, mit der der Fotograf sich den Menschen und den Landschaften annähert. Sein Interesse gilt dem Alltag der Menschen, ihren Lebensumständen und ihrer Arbeit. Bereits in seinem Bildband «Bilbao» hat er erläuternde Legenden eingebaut, die in die nordspanische Stadt auch jenen näherbringen, die die Stadt nur als Sitz der dortigen Museum Guggenheim Filiale kennen. Wehrlis Bilder zeigen nicht jene Sites, die im Reiseführer vorgestellt werden. Sein interesse gilt den Lebensumständen und nicht den immer wieder sonst abgebildeten Kunstdenkmälern aus vergangenen Zeiten, auch wenn sie ihn nicht minder interessieren.
Drei Schwerpunkte weist sein Fotoband «Mezzogiorno» auf: Die Stadt Neapel, den Aspromonte (oder auch Kalabrien) mit seinen Dörfern sowie Sizilien. Es ist diesmal das ärmere Italien, das ihn interessiert, jene Gegenden, aus denen man in den reicheren Norden oder sogar ins Ausland zog und immer noch wegzieht. Und es sind stets die Menschen, denen er sich zuwendet, die er fotografiert, nie sind es entlarvende Bilder. Wehrlis erstes Italienbuch «Pensione Italia» wies noch Fotografien auf, die er zwischen Mailand und Palermo aufgenommen hatte. Mit den Jahren und mit der neuen Bildersammlung fokussiert sich sein Interesse.
Roger Wehrli ist ausgebildeter Fotograf und gehörte zu den Gründern der (leider im Jahr 2003 aufgelösten) Fotografenagentur «look at», in der hervorragende junge Schweizer Fotografen, Absolventen der Fotografieausbildung an der damaligen Zürcher Schule für Gestaltung, in den 1990er Jahren gearbeitet haben. Der Rückgang der Aufträge für die Presse hat sie alle dazu geführt, auch jenseits der herkömmlichen Fotografie tätig zu werden. Wehrli hat das Schreiben als Nebentätigkeit genommen und schreibt mittlerweile regelmässig für das Publikationsorgan der Schweizer Lehrerinnen und Lehrern, in dem er auch Bilder publiziert.
Dass er nicht nur die Fotografie, sondern auch dank seiner journalistischen Tätigkeit auch die Informationsarbeit versteht, zeigt sein neues Italienbuch, in dem sich wieder Bilder und erläuternde Kurztexte ergänzen. Seine Stadtbilder aus Neapel zeigen Strassenmärkte, fliegende Händler, pulsierendes Leben, verkehrsreiche enge Strassen, posierende Jugendliche. Dazu ergänzt er mit dem Textkontrast: «Neapel hat für italienische Verhältnisse eine junge Bevölkerung. Besonders in den ärmeren Quartieren ist die Zahl junger Mütter überdurchschnittlich hoch. Das führt dazu, dass viele keinen Schulabschluss haben. Auch deren Kinder gehen allzu oft nur unregelmässig in die Schule. Die Freizeit verbringen sie zumeist unbeaufsichtigt in den Gassen des Quartiers». Wie vernachlässigt die Stadt manchmal auch wirken kann, zeigt Wehrli mit einer Aufnahme des Garibaldiplatzes, wo Abfälle sich türmen, tagelang wachsen und üble Gerüche verbreiten.
Im Aspromonte hat Wehrli Szenen im Wallfahrtsort Madonna di Polsi festgehalten, dem Ort, in dem die Clanchefs der Ndrangheta, der kalabrischen Mafia, zusammenkommen, um Streitigkeiten unter und in den Familien beizulegen. Und wieder ist es der Kontrast, der auffällt: Eher nach aussen sichtbar ist dort jeweils das Treiben am Volksfest, das der Fotograf auch festgehalten hat. «San Luca: 5000 Einwohner etwa, ein Viertel davon vorbestraft, mehr als hundert aktuell im Gefängnis», ergänzt La Rosa andere Aufnahmen. Doch Wehrli fotografiert nicht nur die Menschen und ihre Ortschaften, er hält auch die raue und manchmal karge Natur im Süden Italiens fest, wo enge Strassen und spitze Kurven hinauf in die Berge führen, die Landwirtschaft ein kleines Einkommen nur zulässt: Im unwegsamen Gelände Kalabriens sei schon manches Entführungsopfer spurlos verschwunden.
Mehrfach hat Wehrli auch Sizilien bereist. In einem Bild sind Obdachlose während der Besetzung des Doms von Palermo zu sehen. Mit ihrer mehrtägigen Aktion machten die Männer, Frauen und Kinder auf ihre prekäre Situation aufmerksam. Den Kirchenoberen, so erzählt der Fotograf, riss nach wenigen Tagen der Geduldsfaden: Kurzerhand entfernten sie die Sakramente, was es der Polizei möglich machte, die besetzte Kirche zu räumen. So kontrastreich verschiedenartig sind im Süden Italiens die wirtschaftlichen Verhältnisse: Während Reiche sich in Klubs treffen, die nur ihresgleichen offenstehen, ist den arbeitslosen Armen der Zutritt zu diesen Orten wie der fotografierten prächtigen Villa Tasca, die er als Gegensatz zu den anderen Lokalitäten festgehalten hat, verwehrt.
Roger Wehrli ist als Fotograf mit Langzeitprojekten befasst. Migration und Italien sowie der Norden Spaniens sind jene Themen, die ihn über lange Zeit beschäftigen. In Genua hat er im Aufrag des Goethe Instituts in einer Ausstellung Fotos von italienischen Gastarbeitern in Deutschland gezeigt. Es sind immer wieder die Lebensumstände der Menschen, die ihn, den politisch Interessierten, in seinen Aufnahmen beschäftigen. Ihn zieht es immer wieder in den Süden. Das Mittelmeer muss es nicht sein; «Bilbao. Fotografien seit 1988» heisst sein im Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess erschienenes Buch, das die Entwicklung der nordspanischen Stadt von einem Ort der die Umwelt belastenden Schwerindustrie zu einem Dienstleistungszentrum und zu einem Kulturhub zeigt, in dem Bauten der Moderne einen markanten Stadtwandel verdeutlichen. Gebauter urbaner Raum und die Menschen der Stadt prägen die Bilbao-Bilder. Nicht anders der Hauptakzent der Bilder in «Pensione Italia» und im Band «Mezzogiorno». Alle drei Bildbände von Roger Wehrli zeigen einzig Schwarzweiss Fotos, die Bilder sind alle analog aufgenommen worden. Die Fotografien seines neusten Buchs hat er mit einer Yashica im Format 6 x6 aufgenommen, die er im Alter von 16 Jahren gekauft hat.
«Mezzogiorno» von Roger Wehrli ist 2022 bei der Till Schaap Edition, Bern, erschienen. Einleitung in deutscher und italienischer Sprache von Leonardo La Rosa. «Pensione Italia» ist beim Benteli Verlag in Bern erschienen, «Bilbao» wurde vom Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich herausgebracht.
Eingeworfen am 7.7.2022
Gut, wieder einmal auf diesen schon beinahe vergessenen Süden hinzuweisen, vor allem auf die Menschen mit ihrem doch schweren Leben unter ausserordentlichen Bedingungen. Das vorliegende Beispiel enthält viel von dieser Melancholie und wirkt nach.