Filmisch das Glück festhalten

Josef Scheidegger, Filmer, Fotograf, Regisseur, Schauspieler an der Kamera

Autor: Michael Guggenheimer

In ihrem 2015 fertiggestellten Film «Das Leben drehen. Wie mein Vater versuchte, das Glück festzuhalten» hat die Zürcher Filmerin Eva Vitija ein persönliches Porträt ihres bildersüchtigen Vaters geschaffen.

Ich dachte, ich bin schlimm. So viele Leute haben es mir gesagt. Und so viele Leute sagen es mir heute noch, dass sie nicht ständig fotografiert werden wollen und ich die Welt ohne davor geschalteter Kameralinse wahrnehmen soll. Aber dann sah ich den Film von Eva Vitija und wusste, es geht noch viel schlimmer.

Das sind Szenen, die ich aus eigener Erfahrung kenne: «Nein, muss das sein?», sagt eine Bekannte. Ich stehe nah vor ihr, richte mein Smartphone auf ihr Gesicht. Sie ist schneller als ich. Er ist wieder zu spät. Auf dem Display sind ihre Hände zu sehen, mit denen sie ihr Gesicht verdeckt. Oder auch: «Nicht schon wieder» ruft eine meiner Töchter. Sie stöhnt und lässt es dann doch zu. Eine Enkeltochter, darum gebeten, mich nachzumachen, hält beide Hände vor dem rechten Auge und simuliert einen Klick. Ich bin der Grossvater, der ständig fotografiert.

Ich kenne mich als lästigen Fotografierenden nur allzu gut. An Familienfesten bin ich stets der Fotograf. «Gell, du fotografierst wieder am Fest?» Wie häufig habe ich diesen Aufforderungssatz schon gehört. Mich muss man nicht lange fragen, ob ich bereit wäre, die Gäste zu fotografieren. Ich tu’s eh. Unaufgefordert. Vielleicht weil ich kein so kommunikativer Zeitgenosse bin, mich hinter dem Objektiv nicht unwohl, ja sogar geschützt fühle, alle und alles beobachten kann, mit der Kamera in den Händen zu keinem wirklichen Gespräch gezwungen werden kann. Als Fotografierender muss ich mich nämlich an einem Fest bewegen können und versuchen, die Gäste zu fotografieren. Gäste, die ich fotografiere, bitten darum, das Bild am Display anschauen zu dürfen. Und regelmässig werde ich darum gebeten, ihnen das Bild per Mail zuzustellen. Meine Fotos sind mein Bildertagebuch. Meine Kinder und meine Enkelkinder sind immer wieder die Opfer. Sie mögen es nicht, wenn ich sie fotografiere. Aber sie schauen sich die Bilder von früher doch gerne an.

Alles harmlos im Vergleich zu dem, was Eva Vitija als Kind und als Jugendliche hat erdulden müssen. Sie und mich verbindet eine Geste. Zu sehen ist sie auf Facebook. Ihr Profilbild dort zeigt sie, wie sie ihre rechte Hand vor ihrem Auge wie ein Objektiv hält und so tut als würde sie hindurchschauen. Ein ähnliches Bild gibt es von mir bei Facebook. Das mag mehr als ein Zufall sein. Fotografieren oder Filmen ist aber für uns beide ein Thema. Für sie lange Zeit ein belastendes.

Vitija ist Drehbuchautorin und Filmerin. Mit ihrem 2022 produzierten Dokfilm «Loving Highsmith» über die amerikanische Schriftstellerin hat sie internationale Anerkennung erfahren. Ihren ersten Film «Das Leben drehen» zeigte sie 2017 an den Solothurner Filmtagen. Der mehrfach prämierte Film handelt von Joseph Scheidegger, ihrem Vater. Der Mann war bildersüchtig. Ich füge erleichtert an: Er war viel bildersüchtiger als ich. Fotografiert und gefilmt hat er wahrscheinlich fast täglich. «Das Leben drehen» war Vitijas erster langer Dokumentarfilm als Regisseurin und ist eine Auseinandersetzung mit der Erbschaft ihres Vaters, der als ambitionierter Filmer das Leben seiner Familie minutiös dokumentierte.

Der Vater, ursprünglich Schauspieler, Dramaturg, Hörspielautor und Filmregisseur, hat die Welt durch das Okular oder auf dem Display gesehen. Nach seinem Tod im Jahr 2012 hinterliess er unendlich viele Fotos, Negative, Videos, Filme, Tonbandaufzeichnungen, Tagebuchnotizen. Im Film «Das Leben drehen» ist eine Einstellung zu sehen mit all diesem gesammelten Bild- und Wortmaterial, das auf dem Boden eines Ateliers liegt, den Boden verdeckt. Diese Hinterlassenschaft hat Eva Vitija dazu benutzt, einen eigenen Film über den fotografierenden, filmenden und alles dokumentierenden Vater zu drehen. Irgendwann muss Joseph Scheidegger, Sammler aller Wegmarken seines Lebens, Ordnung in seinem Leben gemacht haben. Alles hat er angeschrieben und datiert. In der Nationalbibliothek in Bern befindet sich sein Nachlass, eine ganze Sammlung seiner Korrespondenzen sowie der Verzeichnisse seiner zahlreichen Hörspiele, Filme, Filmrollen und Theateraufführungen.  

Was Joseph Scheidegger nicht alles gefilmt und fotografiert hat: Wie er seine Frau innig umarmt. Die Geburt seiner Tochter. Seine schwer kranke, sterbende Ziehmutter. Seine Geliebten. Intimes mit einer Freundin. Seine Kinder aus erster und zweiter Ehe. Es ist, als hätte er keine Hemmung gehabt, ihm nahe Menschen in jeder Situation zu fotografieren. Wie lästig das für die anderen ist! Die Tochter in der Seilbahn. Die Tochter beim Grillfeuer. Die Tochter im Schwimmbad. Die Tochter im See. Die Tochter im Auto. Eine Amerikareise hat er mit seiner Tochter unternommen. Jahre später sagt sie: «Er sah mich und unsere Reise durchs Objektiv.» Auch ihr Bruder muss daran glauben, wird immer wieder gefilmt und fotografiert. Ob er um Erlaubnis gefragt hat? Seine Kinder gewiss nicht. Nicht als sie noch klein waren. Als er einmal seine 16jährige Tochter am Flughafen abholt, hält er die Videokamera in Händen und dirigiert gleichzeitig per Handzeichen den Weg, wohin sie sich mit ihrem Gepäck weiterbewegen soll, damit er eine Filmidee realisieren kann. Dann erst begrüsst er sie. Zum achtzehnten Geburtstag schenkt er ihr einen Film von Spielfilmlänge, einen Film über sie, über ihr Leben, Aufnahmen, die er während Jahren erstellt und zu einem Film komponiert hat. Sie aber, die so oft ungerne gefilmt wurde, mag den Film nicht anschauen. Erst nach Vaters Tod wagt sie sich an den Film und staunt über seine Obsession.

Dewr Boden voll von Filmen, Vieos, Fotos, Notizen von Joseph Scheidegger

Nur mit der Kamera in der Hand kann er jene Nähe schaffen, die er noch aushält. Mit Dominik, seinem erwachsenen Sohn aus erster Ehe, hat er kaum Kontakt. Als er ihn eines Tages aufsucht, spaziert er durch dessen Wohnstätte und Werkstatt mit laufender Kamera, filmt die Begegnung sogar noch im fahrenden Auto. Eines Tages würden ihm seine Kinder dankbar sein, dass er sie gefilmt habe, sagt er einmal. Mit all dem nach seinem Tod hinterlassenen Material vor sich, entscheidet sich Eva Vitija, einen Film über ihren filmenden und fotografierenden Vater zu drehen. Ein Film über eine Familie, die auseinandergebrochen ist. Ihre Mutter, Joseph Scheideggers zweite Frau, lebt in New Mexiko (USA) und berichtet vor laufender Kamera über das gemeinsame Leben von einst. Eva Vitija dreht einen Film und will dabei in Erfahrung bringen, weshalb ihr Vater sein ganzes Leben durch die Linse betrachtet hat.

Ihr fällt auf, dass er zwar unglaublich viele Details aus seinem Leben fotografisch und filmisch festgehalten hat, aber zentrale Themen wie seine erste Ehe und die Existenz zweier Kinder aus dieser Verbindung kaum je angeht, seinen eigenen Kindern aus zweiter Ehe kaum etwas über jene erste Familie erzählt hat. Florian, ein Sohn aus der ersten Ehe, begeht als Jugendlicher Selbstmord. Als emotionalen Selbstschutz und um dieser Tragödie gefühlsmässig nicht zu nahe zu kommen, begibt sich Joseph Scheidegger am nächsten Morgen bereits zur Arbeit ins Fernsehstudio. Er lässt keinen Raum zur Auseinandersetzung mit dem Tod des Sohnes. . Beim Filmen wird Eva Vitija und ihrem Bruder Kaspar bewusst, dass Vaters Vater während ihrer Kindheit gelebt haben muss. Kennengelernt haben sie ihn nie! Und sie wissen kaum etwas über diesen Grossvater. Ob Joseph Scheidegger wohl mit all den vielen Filmsequenzen und Fotografien aus den Jahren seiner zweiten Ehe sich selbst davon versichern wollte, dass er verheiratet ist, dass er in einer stabilen Familienkonstellation und in einer guten Ehe lebt, obschon sie wahrlich nicht stabil war? Scheideggers zweite Frau, Mutter von Eva Vitija, sagt im Film: Die vielen Aufnahmen sollten zeigen, dass das Leben in der zweiten Familie gelungen sei. Die erste Ehe war geschieden worden. Florian, der eine Sohn aus erster Ehe war aus dem Fenster zu Tode gestürzt, der andere Sohn lebt als Erwachsener am Rande der Gesellschaft. Sind es Schuldgefühle des Vaters, die dazu geführt haben, zumindest von der zweiten Familie schöne, harmonische Erinnerungsbilder zu machen? Die Filmbilder seien seine Medikamente gegen die eigenen Schuldgefühle gewesen, meint Claudia Freund, Eva Vitijas Mutter. Von der ersten Familie liegt kaum Bildmaterial vor. Joseph Scheidegger wollte mit Bildern ihm naher Menschen jene Nähe schaffen, die sich im echten Leben nur unter Schwierigkeiten herstellen liessen. «Er wollte das Glück festhalten», sagt Claudia Freund. Interessant, wie die Tochter, die früher nicht fotografiert werden wollte, jetzt mit der Kamera ihre Recherche vornimmt.

Eva Vitijas Dokfilm über den eigenen Vater war nominiert als bester Dokumentarfilm für den Schweizer Filmpreis, erhielt einen Preis der International Documentary Association, Los Angeles, und gewann diverse Preise, unter anderem den Prix de Soleure, den Basler und den Zürcher Filmpreis. Die DVD (Dauer 1 h 17 min) kann im Buchhandel bestellt werden. (Das grosse Bild zeigt Joseph Scheidegger an der Videokamera. Im kleinen Bild: Videos, Filme, Tonbänder, Briefe, Drehbücher aus dem Besitz des verstorbenen Regisseurs und Fimers Joseph Scheidegger warten auf die Bearbeitung durch Eva Vitija).

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