Die Feuilletons überschlagen sich: Lukas Rietzschels zweiter Roman «Raumfahrer» wird in den grossen Blättern hochgelobt. Der 1994 in der Oberlausitz geborene Autor, lebt in Görlitz und gilt als eine der wichtigsten jungen literarischen Stimmen aus dem Osten Deutschlands. Fotografien spielen in diesem Roman eine wichtige Rolle. Das ist Filmeinwurf schnell aufgefallen. Schon auf der ersten Seite heisst es nämlich: «Heute hat mir der Alte ein Foto gezeigt», sagte er. Karlina neben ihm. Ihr rechter Oberschenkel berührte seinen linken. «Was für ein Foto?», fragte sie.
Der zitierte Alte ist ein Mann im Rollstuhl, der eines Nachmittags Jan einen Schuhkarton mit Fotos, Briefen, Dokumenten überreicht. Und diese spielen im weiteren Verlauf des Romans eine nicht unwichtige Rolle. Gegen zwanzig Mal werden Kameras, Fotografie oder Fotografen im Roman erwähnt, in dem die beiden Brüder Hans-Georg und Günther Kern in Kamenz in Ostsachsen in der ehemaligen DDR vorkommen, deren Biografien in der Familiengeschichte von Jan von Bedeutung sind. Die Familien von Jan Nowak und Baselitz / Kern sind nämlich miteinander verknüpft, das ergibt sich nach und nach beim Lesen des Romans und beim Betrachten der Fotografien, die der alte Mann Jan gegeben hat.
Hans-Georg Kern hat die DDR verlassen, er ist Kunstmaler, lebt im Westen Deutschlands und ist unter dem Namen Georg Baselitz bekannt, ja sogar berühmt geworden. Sein Bruder, Fahrlehrer Günter hingegen, hat den rechtzeitigen Wegzug aus der DDR verpasst. Er wird von der Stasi aufmerksam beobachtet. Wie nah die Stasi ihm ist, realisiert er lange nicht. Er besitzt ein grosses Bild, das sein Bruder im Osten gelassen hat. Das Bild heisst «Der Jäger». Und diesem Bild und seiner späteren Geschichte kann man im Roman und in einer späteren Phase im Internet folgen. Jan, der mit den beiden Brüdern verbandelt ist, lange aber nichts davon weiss, arbeitet im Kamenzer Krankenhaus, noch hilft er Patienten, die zum Untersuch geführt werden müssen. Wie lange das Krankenhaus noch in Betrieb sein wird, ist offen. Lange wird es wohl kaum sein. Denn viele Menschen sind aus Kamenz weggezogen, leere Wohnhäuser werden abgerissen. Der Lausitz, so heisst die Gegend, geht es nicht gut. Lukas Rietzschel zeichnet denn auch ein etwas düsteres Bild von der Lausitz.
Wie nah Autor Lukas Rietzschel seine Figuren an echte Personen heranführt, wird zum Beispiel am berühmten Maler und an dessen Bruder deutlich. Maler Baselitz kommt im Roman mit seinem wahren Familiennamen Kern vor. Sein Bruder ebenso. Am Ende des Romans bedankt sich Rietzschel bei Günter Kern für die Bereitstellung von Material, das er während der Recherche für den Roman verwenden durfte. Und so kommen zwischendurch auch frühe Bilder sowie berühmte Gemälde des Malers Baselitz im Roman vor. Schön die ausführlichge Schilderung von Baselitz‘ „Heldenbilder“. Das Buch weist starke Passagen auf, nicht nur – aber auch! – wenn es um die Bilder von Georg Baselitz geht.
Aber nicht nur der echte Maler und der wirkliche Fahrlehrer haben Spuren im Roman hinterlassen. «Über zehn Sommer musste es her sein, als dieser seltsame Mann mit seinen Apparaten durch Deutschbaselitz geschlichen war und die Kern-Brüder ansprach, als sie am Abend nach ihren Ausgrabungen auf dem Weg nach Hause waren. Er stellte sich ihnen als Helmut Drechsler vor. Naturfotograf. «Wisst ihr, wo die Graureiher ihre Nester haben?», hatte er sie gefragt. Sie schüttelten mit dem Kopf. «Und wissen es eure Freunde vielleicht?» Schulterzucken. Abstand halten. Aber offensichtlich war er ja kein Russe, bei denen, so Vater, war immer Vorsicht geboten. Drechsler hatte eine Wohnung im Gasthof bezogen. Jeden Tag ging er durch das Dorf. Sein Blick mehr nach oben als geradeaus oder nach unten gerichtet, wie Georg und Günter es von anderen Männern her kannten»….»Er fotografierte Vögel beim Schwimmen, Fliegen, Brüten, Paaren»…..» Jahre später, als Georg schon in Berlin lebte, entdeckte Günter die Bücher von Helmut Drechsler zufällig in der Buchhandlung am Markt. Seine Fotobände hatten Titel wie «Die Kraniche vom weissen Lug», «Durch die Wälder, durch die Auen», «Im Reich des Roten Milan“ oder «Teichsommer». Viele der Fotografien waren in Deutschbaselits entstanden, einige aus den Verstecken heraus, die Günter und Georg gebaut hatten».
Lukas Rietzschel hat seine Romanhandlung erfunden. Manche Personen, Orte und Handlungen gab oder gibt es in der realen Welt, sie sind aber im Roman neu geformt und müssen nicht so gewesen sein, wie sie im Roman stattfinden. Den 1916 geborenen Fotografen Helmut Drechsler gab es genauso wie die beiden Brüder Kern / Baselitz. Drechsler war ein deutscher Tierfotograf und -filmer. In seinen Büchern, Filmen und Kalendern spezialisierte er sich vorrangig auf Tieraufnahmen. Nach dem Krieg machte Drechsler längere Exkursionen in Teichlandschaften, Naturschutzgebieten, Auwäldern, Uhu-Brutplätzen, die er regelmässig in seinen Büchern vorstellte. Drechslers Buch Uhudämmerung wurde 1952 als bestes populärwissenschaftliches Buch ausgezeichnet und nach Frankreich, England, Holland, die Schweiz und USA verkauft. Drechsler beschrieb nicht nur von ihm beobachtete Tiere und ihre Lebensräume. Ein großer Teil seiner Texte galt der Beschreibung der Kameras und der Techniken, mit deren Hilfe er fotografieren konnte.
Ebenso real ist die Kamenzer Fotohandlung Steinborn, die in Ritzschels Roman vorkommt. Frau Steinborn hat den Brüdern Kern eine Kamera ausgeliehen. Der zukünftige Kunstmaler will Fotos von sich haben, die sein Bruder aufnehmen soll. Günter bringt die Kamera und den Film, auf dem sein Bruder beim Malen porträtiert wurde, in den Laden: «Lächelnd streckte Frau Steinborn ihm ihre Hand entgegen. «Na gib mal her, deine Meisteraufnahmen». Im Laden war es dunkel und kühl. Es schien, als strahlten die kalten Fliesen auf dem Boden durch Günters Schuhsolen. «Was glauben Sie denn, wie lange es dauert, die Fotos zu entwickeln?». «Das dauert so lange, wie es dauert». Die Bilder waren noch nicht entwickelt als Georg nach Berlin zog. Aber Günter würde sie ihm nachschicken, sagte er, ganz bestimmt. Und ein paar davon aufheben, heimlich, und eines auf das Fensterbrett stellen, bis es sich wölben würde und er bei der Steinborn einen Rahmen besorgen müsste.
Lukas Rietzschel: „Raumfahrer“, erschienen bei dtv, München, 288 Seiten, 22 Euro.
Das Schweizer Radio srf2 kultur hat Lukas Rietzschel interviewt. Hier der Link:
https://www.srf.ch/play/radio/literaturfenster/audio/der-deutsche-osten—eine-welt-im-rueckbau?id=38e6d6af-ef84-4dc9-8211-4460b6001f9a
Eingeworfen am x.x.202x
… ein sehr sehr realistischer Beitrag! ICH kann das bezeugen!
Herzliche Grüße
Günter Kern aus Kamenz