Ist es so gewesen?

Eine Folge von Bildern, die Fotograf Mühe von Angela Merkel (?) machte

Autor: Michael Guggenheimer

Es gibt Häuser und Strassen, die nicht wirklich ihre Geschichte erzählen. In Dresden sind es die Frauenkirche und die Strassenzüge rund um die wieder errichtete Kirche. So clean, bis ins Detail so perfekt nachgebaut ist diese Kirche, dass unkundige Besucherinnen und Besucher nicht wissen können, dass das Gotteshaus am Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr als ein immenser Trümmerhaufen war. Wie anders unweit von diesen Strassenzügen der imposante Lipsiusbau mit seiner Kunsthalle, ein Ort für Sonderausstellungen und die Auseinandersetzung mit zeitgenössischem Kunstschaffen. Der Bau, nicht fertig renoviert, zeigt die Wunden aus der Zeit des Dritten Reichs. Nach seiner teilweisen Zerstörung 1945 blieb das Ausstellungsgebäude zunächst jahrzehntelang ungenutzt. Hier gibt es keine Geschichtsfälschung. Wer den imposanten Bau betritt, weiss schnell, dass das Gebäude Spuren des grossen Krieges und der Bombenattacke auf die Stadt zeigt und er erkennt gleichzeitig die wiederaufgebauten, neuen Teile dieses wichtigen Ausstellungsbaus. Somit werden die Besucher zur Auseinandersetzung mit der Geschichte des Gebäudes und der Stadt aufgefordert. Was war und was ist daraus geworden, ist ein Fragenkomplex, der aufmerksame Besucher der Stadt beschäftigen kann.

«Alles, was noch nicht gewesen ist, ist Zukunft, wenn es nicht gerade jetzt ist», lautet ein Satz von Angela Merkel. Der Satz ist Titel und Motto einer Ausstellung im Dresdner Lipsiusbau. In den letzten Monaten der Kanzlerinnenschaft von Angela Merkel präsentieren die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) eine Ausstellung mit fotografischen Serien von Andreas Mühe, auf denen die Kanzlerin zu sehen ist. Andreas Mühe kennt die Kanzlerin: Auf mehreren Reisen hat er sie offiziell begleitet, in Deutschland, den USA, aber auch bis nach Indien. Im Eingang hängen auf einer mobilen Garderobe vier Blazer der Kanzlerin, wie man sie in ihren Farben von Fotos und Fernsehbildern her kennt. Fotos in Grossformat und kleinformatige Bilder zeigen Angela Merkel auf Reisen zu historischen Orten von Hamburg über die Uckermark bis Stuttgart Stammheim, von Kap Arkona bis zur Zugspitze. Auf anderen Bildern ist sie an einem grossen Schreibtisch im Kanzlerbau oder auf Reisen inmitten illustrer Persönlichkeiten zu sehen.

Man geht den Fotos entlang, sieht die Kanzlerin und wird unsicher: Ist sie das oder ist sie’s doch nicht. «Im Kanzlerbungalow» heisst eine Serie von Fotos und man sieht die mächtigste Frau Europas am Schreibtisch und bringt das Gesehene nicht in Einstimmung mit Bildern, die man anderswo gesehen hat. Und irgendwann kommt eine Unsicherheit auf: Ist das wirklich der Regierungssitz in Berlin? Ist das wirklich Angela Merkel? Man erinnert sich, gelesen zu haben, dass es eine Doppelgängerin von Angela Merkel gibt, man schaut genau hin und spätestens bei der grossen Bilderserie, in der man die Kanzlerin von der Seite in Autos, am Fenster eines Flugzeugs oder in der Kabine einer Bergbahn sieht, wird man endgültig misstrauisch, glaubt den Bildern nicht und kommt ins Rutschen.

Hat hier Fotograf Andreas Mühe womöglich zwei Realitäten, zwei Frauen, die sich ähnlich aussehen, aufgenommen und die Bilder nebeneinander gestellt? Oder zeigen alle Bilder der Ausstellung einzig ein Double der Kanzlerin? So sehr inszeniert sind manche dieser Bilder, dass man sich kaum vorstellen kann, dass sich die wirkliche Kanzlerin vor dem Fotografen so hingestellt haben könnte. Die Kanzlerin in Pose neben dem Baum. Hätte ja sein können. Die Kanzlerin sitzend und sinnierend auf dem Bett im Kanzlerbungalow. Weshalb nicht? Der Blick einer Person, die sich nicht regelmässig den Bildern in Zeitungen und am Fernsehen hingibt, mag die Bilder als reale Aufnahmen der Kanzlerin hingenommen haben. Eine Bilderschau, die verunsichert und einen zugleich beschäftigt. Es ist klar: hier handelt es sich um eine Ausstellung, die neben fiktiven Bildern auch reale von der Kanzlerin zeigt. Die Kanzlerin und eine Doppelgängerin. Wer ist hier wer?

Eine Auswahl voin typischen Angela Merkel Blazern

«Die rund 70 präsentierten Werke», so die Information zur Ausstellung, die man in der Verunsicherung angesichts der Bilder liest, «untersuchen die Grundfragen der Fotografie, die Glaubwürdigkeit an die Macht der Bilder, die Kodierung und das Spiel mit der Fiktion. Indem reale Auftragsarbeiten und nachgestellte Szenen für die Betrachtenden auf den ersten Blick nicht oder nur schwer voneinander zu unterscheiden sind, macht Andreas Mühe den grundsätzlich inszenatorischen Charakter politischer Bildproduktion zum Thema». Diese Bilder wollen dem Zuschauer der Ausstellung suggerieren, „dass das alles hier die Wahrheit ist“, so Fotograf Andreas Mühe. Und er fügt in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur an: „Natürlich ist das die große Befragung der Fotografie an sich: Ist es so gewesen?“ Und natürlich möchte der Fotograf, wie er sagt, „dass alle glauben, dass es genauso gewesen ist“. Zwei Realitäten begegnen sich hier. Zweimal wahre Bilder. Denn auch die Bilder des Double sind wahre Bilder. Nur zeigen sie nicht die Kanzlerin. Fotograf Mühe zeigt Bilder der echten Kanzlerin – zusammen mit vermeintlichen Fotos von Merkel, die er mit seiner Mutter, der Regisseurin Annegret Hahn, aufgenommen hat: Fiktion und Realität dicht an dicht. Diese Vermischung von Realität und Fiktion macht den großen Reiz der Ausstellung aus. Wie überzeugend diese fiktiven Fotografien von Andreas Mühe sind, hiess es in einer Sendung des mdr, beweise wohl am besten ein Dementi des Bundeskanzleramts: Sie hätten mit diesen Bilderserien nichts damit zu tun.

Eingeworfen am 21.1.2024

Die Ausstellung in der Kunsthalle im Lipsiusbau in Dresden ist noch bis zum 29. August zu sehen.

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