Fotoliteratur in der Peripherie

Vier Bibliotheken in der Schweiz mit respektablen Bücherbeständen aus dem Bereich der Fotografie kenne ich. Die Fotobibliothek im Fotozentrum Winterthur, die private Photobibliothek von Hans Rudolf Gabathuler in Diessenhofen, die Bibliothek des St.Galler Zentrums für das Buch (ZeBu) und die Bibliothek der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).

Diese Bibliothek der ZHdK ist eine Liebe auf den zweiten Blick. Ein hohes graues Gebäude inmitten eines neuen Stadtviertels, das sich nach hinten in die Länge zieht. Hier befand sich lange Jahre die grösste Molkerei der Schweiz. Die einstige Molkerei wurde bis auf die Betonstruktur und die gewundene Zufahrtsrampe abgetragen. In das leere Skelett bauten die Architekten die neuen Räume ein.

Mit dem Aufzug zum fünften Stockwerk hinauf, lange Gänge auf der einen Seite, gleich nebenan durch eine Glastür die Bibliothek betreten und Staunen. Voll ausgeschrieben heisst der Ort «Medien- und Informationszentrum MIZ». Staunen über die Stille und über die Weite, über die Grosszügigkeit dieses repräsentativen Ortes. Eine Arbeits- und Leseoase. Man staunt nicht, wenn man vernimmt, dass Studierende der Universität diesen Ort an der Peripherie der Zentralbibliothek im Stadtzentrum vorziehen, weil es hier geräumiger, ruhiger ist. Einzig ein leises Rauschen der Lüftungsanlage ist zu hören. Züge fahren lautlos an den hohen Fenstern vorbei, kein Lärm vom Autobahnzubringer und von der breiten Brücke über den Bahngeleisen. Lesende sitzen an breiten Tischen. Hohe Fenster und sternartige Deckenlampen, ein geräuschdämpfender gemusterter grüner Teppich, der sich durch den gesamten Lesebereich zieht, Einzelleuchten an den Arbeitstischen. Auf der den hohen Fenstern gegenüberliegenden Seite ein Obergeschoss mit einer Galerie, unter der die Bücherregale aufgereiht sind. Im Eingangsgeschoss die Bibliotheksbereiche Kunstpädagogik, Film, Fotografie, nahe beim Eingang die am reichsten dotierte DVD-Sammlung Zürichs sowie ein Kopier- und Scanbereich.

Es ist eine Lust durch das Eingangsgeschoss und durch das Galeriegeschoss dieser Lese- und Arbeitsoase im zu flanieren, in den Büchergestellen Namen von Künstlerinnen und Künstlern zu begegnen. Wie konnte es sein, dass ich diese so schöne Bibliothek nicht schon früher und öfter besucht habe? Dabei steht diese Bibliothek auch Personen offen, die nicht hier studieren. Ich mache die Probe aufs Exempel und werde von einer hilfreichen Bibliothekarin geradezu ermuntert, Bücher, die mich interessieren auszuleihen. Die ZHdK Bibliothek sei öffentlich für Studierende der ZHdK, für Neugierige, für Fachleute.

Wie kann man als Laie, der Bücher liebt und liest, den Bestand einer Bibliothek beurteilen? Ich bin beeindruckt von der Fülle der Notenbibliothek. Ich staune über die riesige Anzahl der DVD’s. Der einzige Bereich der Bibliothek, den ich einigermassen kompetent beurteilen kann, ist der Sparte der Fotoliteratur. Der Bestand erstreckt sich über die Bereiche «Personen und ihre Werke» über «Theorie und Ästhetik», «Geschichte der Fotografie», «Sparten und Motive» sowie «Fotopraxis». Ich schreite die Gestelle ab und stelle fest: Wer sich in Zürich und Winterthur für Fotografie interessiert, der kann ein ganzes Leben lang Fotografieliteratur lesen. Die Fotobibliothek in Winterthur und der Bestand der ZHdK ergänzen sich vortrefflich.

Ich fange meinen ziellosen Spaziergang durch die Bestände des Bibliotheksbereichs Fotografie in der ersten Sektion an und dort am äussersten Rand beim allersten Titel des Buchstabens A und ziehe Slim Aarons «Once upon a Time» aus dem Gestell. Ein schwerer Band mit opulenten Fotografien von reichen Menschen, die vor ihren Schlössern und Pools posieren, am Steuerrad ihres teuren Oldtimers sitzen. Am anderen Ende des Bereichs des Alphabets ziehe ich beim Buchstaben Z den Band «Himmel» mit den Himmelbildern des Schweizer Glaziologen und Fotografen Andreas Züst. Betörende Aufnahmen von Wolkenformationen und Texte zum Klimawandel. Ob sich der Himmels- und Wolkenmaler Gerhard Richter und Andreas Züst gekannt haben?

Ich begegne als Kontrast zu Slim Aarons Reichen mit ihren Landsitzen in Lewis Hines’ berühmten Fotoband «Children at Work» Fotos von Kindern an der Arbeit in Industrie und Bergwerken, die um ihre Kindheit betrogen wurden und hart schuften mussten. Ich verweile eine Zeitlang im Buch «Alpa. Always Different from the Rest» über die längst eingestellte legendäre Schweizer Kameramarke. Und da ist – gleich in mehreren Ausgaben – «The Family of Man», herausgegeben von Edward Steichen. Weil mir die japanische Fotografie nicht vertraut ist, nehme ich einen entsprechenden Band von «Photographers Index» zur Hand. Dann schleppe ich den schweren Band «Zeitblende. Fünf Jahrzehnte MAGNUM  Photographie» in den Lesebereich. Zwei Stunden vergehen im Nu, ich muss wieder kommen, der Band mit grossen Bildern und Texten zur Geschichte dieser Agentur, ist zu umfangreich für eine Nachmittagslektüre. Ich mache mich jetzt trotzdem gezielt auf die Suche nach anderen Fotografen, die ich schätze: Paul Strand, Edward Weston, Henri Cartier-Bresson, Nan Goldin, Monique Jacot,Pia Zanetti, Cindy Sherman, erwin Blumenfeld, Werner Bischof, Jakob Tuggener, Nicolas Faure, Hans Danuser. Sie sind alle da!

Bücher in der  ZHdK Bibliothek

Nadav Kanders breiter Bilderband «Yangtze- The Long River» ist da, an die Ausstellung erinnere ich mich noch, kann aber nicht mehr rekonstruieren, wo ich sie gesehen habe. Ich wandere entlang den langen und vollbeladenen Büchergestellen vorbei, suche die Namen jener Fotografen, die ich näher kenne. Marianne Breslauer ist da, Naomi Leshem auch, Helmar Lerski und sogar Max Jacoby. Und dann eine Entdeckung, die ich mit nach Hause nehme: Stefan Moses’ Bildband «Deutschlands Emigranten». Der exilierte Fotograf hat grossartige Porträts von exilierten Künstlern und Wissenschaftlern publiziert. Wie konnte ich bloss diese Fotoarbeit, die ihn über Jahrzehnte beschäftigte, nicht kennen? Helmar Lerski, im Ausland gefeierter Schweizer Fotograf, an den zu seinem 150. Geburtstag keine einzige Ausstellung in der Schweiz durchgeführt wurde, ist mit mehreren Publikationen vertreten. Einzig Tim Gidal, einer der grossen Wegbereiter des Fotojournalismus, der in Basel studiert hat, fehlt mir. Ansonsten weiss ich: Ich werde mehrmals wiederkommen.

Ein kleiner Nachtrag zur Fotografie noch. Besucher, die sich durch die Bibliothek führen lassen, gibt Felix Falkner, der stellvertretende Leiter der Bibliothek, eine schöne Sammlung von Ansichtskarten, die Elke Neumann fotografiert hat. Es sind Farbimpressionen wie Gemälde, künstlerische Werbekarten für das Medien- und Informationszentrum der ZHdK. Elke Neumann arbeitet im Medien- und Informationszentrum, im Team Medienbearbeitung. Daneben ist sie als Kunstschaffende tätig und arbeitet auch dort oft mit Schrift und Sprache. Eine andere Serie von Ansichtskarten, die man in der Bibliothek erhält, haben Studierende erstellt. Auf ihnen sind Bibliotheksbesucherinnen und -besucher zu sehen, die Werbung für textile Tuchtaschen entwickelt haben, mit denen sich Bücher von den Regalen zum Ausleischalter oder zu den Arbeitstischen besser tragen lassen. Eine witzige Erfindung mit Namen Shlep, erfunden und entwickelt von Studierenden der ZHdK.

Eingeworfen am x.x.202x

https://www.zhdk.ch/miz

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