Ein Mädchen, es ist taubstumm, kommt ins Heim. Das Kind wird abgeliefert. Die Anstalt wird von frommen Schwestern geführt. «Das Kind ist nicht so früh erwartet worden. Wie ein gewebter schwarzer Wall sitzen die Schwestern, eine neben der andern, vor dem besonnten Seitenflügel des weitläufigen Gebäudes auf einer alten Kirchenbank….Am äussersten Ende, neben der Jüngsten im Novizenkleid, hat sich der Hauskaplan hingestellt…Etwas entfernt steht auf einem Dreibein aus Eschenholz eine grosse Reisekamera, der Wanderphotograph, ein schnauzbärtiger Mann mit stechendem Blick und einem eigenartig weichen Kauderwelsch, fährt den Balg auf dem Schlitten aus, verschwindet mit seinem Kopf unter dem schwarzen Tuch und dreht an den messinggefassten Linsen, hebt alsdann, nachdem er die gläserne Platte eingeschoben hat, die linke Hand und schnippt mit den Fingern. Mienen und Leiber erstarren».
Die Beschreibung einer Gruppenaufnahme stammt aus dem neuen Roman «Krumholz» von Flavio Steimann. Und es ist nicht die einzige Passage im Roman, der in den ersten 14 Jahren des 20. Jahrhunderts spielt, in welcher Fotografie eine Rolle spielt. «Leibhaftige Wanderphotographen habe ich nicht mehr erlebt, aber meine Klassenfotos ab 1950 wurden noch alle mit hölzernen Plattenkameras und schwarzem Tuch aufgenommen», erzählt Steimann. Und er erweist sich als ein exzellenter Kenner des Mediums Fotografie. In seiner Erzählung «Aperwind», die als Buch erschienen ist sowie in seinem Roman «Bajass» kommt Fotografie mehrmals vor.
Doch zurück zum Autor und zu seinem Roman «Krumholz». «Das Fotografieren der Schwestern bei Agathas Eintritt in die Anstalt», berichtet Steimann, « ist eine Hommage an Roberto Donetta, der ein „Sumenzatt“ war, wie im Tessiner Dialekt die reisenden Samenhändler heissen, und gleichzeitig eine zweite Kiste für die Ausrüstung mit sich führte und das Leben im Bleniotal mit seinem Apparat reichhaltig dokumentiert hat».
In Steimanns Erzählung «Aperwind» kommt ein Daguerrotypist vor. Detailgenau beschreibt er das Entstehen einer Porträtaufnahme mit einer Camera obscura. Im Buch «Krumholz» spielt ein Stereo- Bildbetrachtergerät eine Rolle. Das Kind Agatha entdeckt in einem Schopf einen merkwürdigen, halb offenen Kasten aus rötlichem Holz. «Er hat zwei verglaste Röhrenfenster und unten einen schwarz lackierten Griff, kleine geriffelte Rädchen glänzen wie Gold. Aus einer flachen Schublade im unteren Teil nimmt Ludian ein doppeltes Bild und klemmt es an die vordere Wand. Dann dreht er sorgfältig an den Einstellschrauben und hält die Linsen dem Kind vor die Augen. So etwas hat es noch nie gesehen. Weit voneinander entfernt und wie wirklich, als könnte man sie mit der Hand ergreifen, stehen Tiere im Sand».
Fotografie in Steimanns Romanen bewegt sich in ganz unterschiedlichen Bereichen. Wieder im «Krumholz», diesmal im Gefängnis: «Als er gekettet mit Hand- und Fusseisen, im Kellergeschoss auf dem Spindelstuhl sitzt, von der stählernen Klammer am Hinterkopf gehalten, und sie ihn erhellt von Magnesiumblitzen photographieren, d’en face zuerst und dann en profil und auch schräg von hinten mit einem fahrbaren Spiegel, muss er bei jedem Verschlussablauf an Castor denken».
Im Roman «Bajass» durchsucht Ermittler Albin Gauch im Rahmen der Aufklärung eines Doppelmordes die Zimmer eines Bauernhofs. «Zuunterst, auf dem Bodenbrett des Kastens, lagen zwei gerahmte Photographien, eine davon mit geborstenem Glas. Eine junge halbwegs hübsche Dienstmagd, aber mit strengem, abgehärmtem Blick, es musste die Bäuerin sein, stand im schwarzen Lodenrock und einer Bluse mit Rüschenbrust und aufgesteppten Puffärmeln vor einer Wirtschaft neben einem Zugochsen…..Der Gandbauer als junger Dragoner mit adoleszentem Oberlippenbart, den Schuppenriemen des Tschakos mit dem Pompon und der Kokarde stramm unter dem flaumigen Kinn, posierte stolz in der Uniform, die nun als Scheuche im Keller vermoderte. Als Gauch, vornüber gebeugt auf einer Stabelle sitzend, aus resignierender Müdigkeit eher denn getrieben von Scharfsinn, in einem seit Jahren liegen gebliebenen Aussaatkalender über Mondphasen und Aufgüsse für trächtige Rinder las, glitt beim Weiterblättern aus dessen Seiten eine Photographie und fiel vor seine Füsse». Und eben diese Photographie eines jungen Mannes treibt die Erzählung mächtig weiter. Denn Ermittler Gauch muss den Porträtierten finden. Und weil Autor Steimann Fotografien so trefflich sprachlich beschreiben kann, meint man die Bilder zu sehen, obschon sie alle erfunden sind, nur sprachlich und dann in unserer Phantasie existieren.
Flavio Steimann ist ein unglaublich präziser Beobachter. Seine beiden Romane und die Erzählung «Aperwind» spielen zeitlich in einer längst vergangenen Zeit zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg und örtlich irgendwo zwischen Luzern und dem Elsass. Steimann hat beim Verfertigen seiner Erzählstoffe intensiv recherchiert und setzt immer wieder Ausdrücke ein, die der Sprache jener Zeit entlehnt sind, was seinen Erzählstoffen eine Authentizität verleiht.
Das Motiv des Fotografierens durchzieht alle Werke Flavio Steimanns. Befragt, wie sein Verhältnis zur Fotografie, ist die in seinen Romanen eine Rolle spielt, gibt Steimann zur Antwort: «Ich bin in einfachen Arbeiterverhältnissen ohne Bücher aufgewachsen, aber mein Vater besass eine „Voigtländer Compur„ mit Ausziehbalg und Brillantsucher (Baujahr um 1931); ich bewahre sie immer noch auf und natürlich vor allem auch die Bilder, die er von mir in meiner Kindheit und Jugend damit aufgenommen hat – daher vielleicht mein Flair für das Abbilden mit den Mitteln der Fotografie, insbesondere in ihrer Frühzeit. Ich selber fotografiere nur für die eigenen Bedürfnisse: zunehmend schwarz-weiss, Reisebilder, Landschaften, Besonderes aus Städten, alle Arten von Strukturen in Technik und Natur. Dabei muss ich bekennen: Der Motor ist vielmehr Technophilie als fotografisches Können, ich mag Messsucher, alte Leica-Objektive, auch russische Nachbildungen – alles, was ohne Kunststoff auskommt und feinmechanisch ist. Dennoch herrscht in diesem Bereich aber weder Ehrgeiz noch aktive Disziplin, es ist ein lediglich sporadisches Tun – wie übrigens mein Schreiben auch».
Die Romane Krumholz (2021) und Bajass (2014) sind beide in der Edition Nautilus, Hamburg, erschienen. Die Erzählung Aperwind (bei Benziger) ist leider vergriffen. Autor, Theatermacher und Lehrer Flavio Steimann hat für seine Veröffentlichungen mehrere Preise erhalten und nahm 1988 am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb teil, er lebt in Luzern. Das grosse Bild stammt vom Aperwind-Umschlag. FotografIn unbekannt. Auf dem kleinen Bild: Autor Flavio Steimann.
Eingeworfen am 6.4.2021
Wie schön, wenn ein literarisches Werk unter einem ganz bestimmten Aspekt – hier jener der Fotografie – beleuchtet und nicht bloss knapp zusammengefasst wird, was ja in gängigen Rezensionen heute meist der Fall ist. Der Autor dieses hoch präzisen Beitrags hier aber hat einen im wahrsten Sinne des Wortes fotografischen Blick!