«Enquête photographique du canton» oder «Fotografische Ermittlung des Kantons» nennt sich ein Projekt, das die meisten Westschweizer Kantone alle zwei Jahre ausschreiben: Eine Fotografin oder Fotograf erhält nach Einreichung eines Arbeitskonzepts und nach der Sitzung einer Fachjury eine Carte blanche und kann einem selbstgestellten Thema auf dem Gebiet des betreffenden Kantons fotografisch nachgehen. Nach Abschluss der Arbeit findet jeweils eine Ausstellung statt und wird eine Publikation aufgelegt. «Die fotografische Ermittlung» so heisst es in der Ausschreibung des Kantons Fribourg, »dient der Förderung des künstlerischen Schaffens und dem Aufbau eines zeitgenössischen, dem Kanton gewidmeten Fotoarchiv». Wer mitmacht, muss nicht im Kanton leben, der Wettbewerb ist jeweils offen. Anfang Februar 2021 hat der Kanton Freiburg zum dreizehnten Mal Fotografen aufgerufen, Projekte einzureichen. Und gleichzeitig stellt Thomas Kern seine Bilder aus, die er in den vergangenen anderthalb Jahren im Rahmen seiner «Enquête» aufgenommen hat. Der Ort der Ausstellung wäre ideal: Fri Art, die Kunsthalle für zeitgenössische Kunst in der unteren Altstadt von Fribourg. Dass nur wenige Besucher Thomas Kerns Fotografien gesehen haben, hat mit der coronabedingten Schliessung der Museen zu tun: Drei Wochen lang war seine Ausstellung zwar zugänglich, allerdings auch über die Feiertage, an denen nur wenige Besucher erschienen sind. Dass jetzt trotzdem die Möglichkeit besteht, seine Bilder zu sehen, hat paradoxerweise ebenso mit dem Lockdown zu tun: In den Schaufenstern der geschlossenen Läden entlang der Geschäftsstrasse Rue de Lausanne werden jetzt die Fotos ausgestellt.
«Je te regarde et tu dis» lautet der Titel der Ausstellung. Kern schaut Menschen an und sie zeigen sich vor ihren Wohnhäusern, im Garten, meistens jedoch in ihren Wohnungen, die nicht extra aufgeräumt oder verschönert wurden. So leben wir, scheinen die Bilder auszudrücken. Manche Fotografierte schauen den Fotografen fragend an, andere blicken nicht in die Kamera. Kerns Projektidee war es, Menschen im Kanton zu fotografieren, keine Honoratioren, keine Repräsentanten, keine bekannten Menschen. Im Schneeballverfahren ist er zu ihnen gekommen. Jede der fotografierten Personen nannte ihm einen oder zwei Namen von Personen, die er fotografieren sollte. Bedingung war, dass die Vorgeschlagenen nicht in derselben Ortschaft wohnen durften, in der die fotografierte Person lebt. Kreuz und quer durch den Kanton führte Kerns Fotoreise. Frauen und Männer, Junge und Alte, Einheimische und Zugezogene sassen und standen ihm Porträt. Begonnen hatte er mit Jean François Haas, einem Gymnasiallehrer und Autor, dessen Kurzgeschichten er zufällig begegnet war. Ihm konnte Fotograf Kern noch keine Bildbeispiele zeigen. Erst nach mehreren Begegnungen gab es Beispiele zum Vorweisen und mit denen er sein Projekt erläutern konnte.
Allen 61 Personen, die er aufnahm, begegnete er in deren Wohnung oder Haus. Auf zwei Aufnahmen sind mehr als eine Person zu sehen: Eineiige Zwillingsschwestern und eine Gruppe von Trachten tragenden Frauen aus Bulgarien. Namen, Bildlegenden oder Erläuterungen zum Setting kamen in der Ausstellung neben den Fotos nicht vor. Was es gab war ein Blatt mit den Namen, mit Ortsangaben und mit dem Datum der jeweiligen Aufnahme. Und auch wenn Kern mit jeder und jedem der Fotografierten drei Stunden lang zusammen war, hat er auf Geschichten verzichtet. Dabei könnte er zu jeder Person etwas erzählen. Wirken sollte einzig das fotografische Porträt. «Es ist eine fotografische Arbeit», sagt Kern. «Die Bilder sollen für sich sprechen». Das Environment sollte sekundär sein.
34 Bilder in Schwarzweiss zeigte Kern in der Kunsthalle und später in den Schaufenstern, 50 Bilder weist das Begleitbuch auf. Bei einer einzigen Person funktionierten Nähe und Dialog nicht, ergab sich kein Porträt. Ein Kind, das er fotografierte, passte am Schluss nicht ins Ausstellungskonzept. Die Bilder nahm er alle analog auf, Kunstlicht hat er nicht eingesetzt. Anders als heute üblich, konnte er wegen des analogen Vorgehens den Porträtierten gleich nach den Shootings keinen Blick auf ihre Porträts gewähren. Wer das eigene Bild sehen wollte, musste sich gedulden und ins Museum kommen. Durchschnittlich 36 Bilder pro Person, alle Bilder im Format 6 x6 ohne Stativ mit einer Rolleiflex hat Kern aufgenommen. Etwa drei Stunden dauerte jede Begegnung, bei der man sich zuerst etwas warmreden und kennenlernen musste. Während häufig bei vergleichbaren Aufgaben der Fotograf oder die Fotografin die porträtierte Person danach befragt, wo sie wohl und mit welchem Hintergrund am liebsten fotografiert werden möchte, verzichtete Thomas Kern auf diesen Zugang. Bei der Begegnung ergaben sie die Stellen von selber. Im Keller des Museums zeigte Kern in einem schnellen Durchlauf ab Beamer alle Personen, denen er im Rahmen des Projektes begegnet ist. Die Bilder, die von einem Soundteppich begleitet werden, hat er zum Teil mit Tusche übermalt. In der Ausstellung zeigt Kern denn auch einige abstrakte Bilder in schwarzer Tusche, die während es Fotoprojektes entstanden sind.
Eine Vernissage hat wegen des Lockdowns keine stattgefunden. Und in jener Zeit, da in den Westschweizer Kantonen im Gegensatz zur Deutschschweiz Ausstellungen noch besichtigt werden konnten, kamen kaum Besucher aus der Deutschschweiz, weil dort zu wenig bekannt war, dass man in der Romandie immer noch die Museen besuchen konnte. Jede der fotografierten Personen erhält mit Abschluss des Projektes ihr Porträt im Format 30 x 40. Und weil nicht alle 61 Porträtierten die Ausstellung besuchen konnten, richtete Kern während drei Tagen Ende Januar sein Atelier in den Ausstellungsräumen ein und empfing die Porträtierten einzeln zum Rundgang durch die Ausstellung. Bis Ende Februar sind die Porträts an der Rue de Lausanne zu sehen. Das tröstet den Fotografen.
Eingeworfen am 01.02.2021
Fotograf Thomas Kern war Mitbegründer der Fotoagentur Lookat Photos. Seine Fotografien wurden in zahlreichen Ausstellungen gezeigt. Die letzte grosse Schau «Haiti. Die endlose Befreiung» fand in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur statt. Er hat mehrere Auszeichnungen für seine Fotografien erhalten. Thomas Kern lebt in Möriken (AG).
Thomas Kerns «Fotografische Ermittlung des Kantions Freiburg» in der Kunsthalle Fri Art hätte bis zum 21. Februar stattfinden sollen. Im Verlag Edition Stephan Witschi, Zürich, ist eine Dokumentation zur Ermittlung erschienen. Begleitet wird die Porträtserie von einem Gespräch des künstlerischen Leiters der Fri Art Kunsthalle, Nicolas Brulhart, mit dem Fotografen und einem Gedicht der jungen Autorin Myriam Wahli, die das Fotoprojekt aus einer anderen Perspektive beleuchtet. Im grossen Bild ist Immaculé Mosoba aus Fribourg zu sehen. Auf der kleinen Aufnahme Isabelle Noel aus Cottens, die ihr Porträt im Katalog anschaut. Im Hintergrund das Porträt von Victor Cavazzuti aus Courtepin.
Dein Filmeinwurf zur derzeitigen (geschlossenen) Ausstellung von Pia Zanetti in Winterthur ist wiederum einfach grosse Klasse.
Gerade in Zeiten geschlossener Museen ein so toller und feinfühliger Cicerone! Und das prächtige Fotobuch bestell ich doch gleich bei meiner Buchladenfrau in Appenzell… Herzlichen Dank für den schönen Hinweis!