Da findet die erste umfassende Ausstellung einer Fotografin statt, die Fotos aus über vierzig Arbeitsjahren hängen schon alle, der Katalog ist gedruckt, die Einladungen sind verschickt, die ersten Führungen organisiert, alles ist bereit, sogar ein erster TV-Beitrag ist schon gesendet. Und dann dies: Wegen der Pandemie und wegen der verordneten Schliessung aller Museen kann die Ausstellung nicht besucht werden. So geschehen mit der Ausstellung von Pia Zanettis Fotos bei der Fotostiftung Schweiz in Winterthur. Wer das Werk der herausragenden Schweizer Fotografin dennoch kennenlernen will, dem sei die grosszügig gestaltete Monografie empfohlen, die Peter Pfrunder, Leiter der Fotostiftung, herausgegeben hat. Bis am 24. Mai soll die Ausstellung dauern, Hoffnung besteht, dass man sie noch wird sehen können.
Als die 1943 in Basel geborene Pia Zanetti den Beruf der Fotografin erlernen will, findet sich kein Betrieb, der sie aufnehmen würde. Frauen finden in der Schweiz in den frühen 60er Jahren nur mit Mühe Ausbildungsstellen in der Fotografie. Der feingliedrigen jungen Frau trauen männliche Fotografen den Beruf nicht zu. Dabei kannte die Fotogeschichte schon damals seit Jahrzehnten herausragende Fotografinnen, auch solche aus der Schweiz. Pia Zanetti hat Glück, sie kann ihre Ausbildung bei ihrem fünfzehn Jahre älteren Bruder, dem Werbefotografen Olivio Fontana, und an der Kunstgewerbeschule Basel absolvieren. Pia Zanetti wird freischaffende Fotografin, sie verbringt einige Jahre in Rom und London, gemeinsam mit ihrem Mann, dem Textjournalisten Gerardo Zanetti, publiziert sie Reportagen für italienische und Schweizer Zeitungen und Zeitschriften.
Das erste Bild der Ausstellung und des Buchs ist eines, das Pia Zanetti im Alter von 17 Jahren aufgenommen hat. Junge Leute sind auf dem Bild zu sehen, sie tanzen zum Sound der Rockband The Hurricans. Bewegung prägt das Bild. Tanzende kommen in ihren Bildern später wieder in Belfast vor und in einem Tanzlokal in Brüssel. Bewegung eben. Die letzten Bilder der Monografie stammen aus Usbekistan, es sind Bilder von Menschen in verarmten Dörfern auf dem Land unweit vom Aralsee. Das Coverbild zeigt eine Frau am Strassenrand irgendwo in Usbekistan im Regen, die mit der Rechten den Autofahrern den Weg in die Ferne weist.
Erste Bilder aus Italien in den 60er Jahren zeigen bereits das starke Interesse der Fotografin an Menschen. Stets sind sie im Vordergrund, blicken in die Kamera, befinden sich auf der Strasse. Schüler, Passanten, Polizisten, Menschen in einem Altersheim oder im Restaurant. Manchmal wählt die Fotografin langsame Verschlusszeiten, was den Bildern eine schöne Bewegtheit und Unschärfe verleiht. Und wieder wird klar: Bewegung ist ein wichtiges Element in Zanettis Fotografie. Landschaften sind nicht Pia Zanettis Sache. Es sei denn, sie werden über die Menschen sichtbar, die sie bewohnen oder bearbeiten. Menschen unterwegs, arbeitende Menschen auf dem Feld in Spanien, im Kohlenbergwerk in Belgien, Mineure in der Goldgrube im südafrikanischen Durban oder in der Auto-Montagehalle in Detroit. Farbige Strassenbilder aus dem sommerlichen New York, die sorglose Flaneure beim Windowshopping und eilende Passanten zeigen. In einem Heim für alte Sängerinnen und Sänger in Italien fotografiert sie und zeigt uns Bilder der Pensionäre. Wer so viel und an so unterschiedlichen Orten fotografiert hat, findet im eigenen Bilderfundus auch Fotos, bei denen es in der Bildunterschrift heisst «Ort unbekannt, Italien 1967».
Für die Ausstellung und für die Buchpublikation durchforstete die Fotografin ihr reiches Bilderarchiv. Nadine Olonetzky, Kulturjournalistin, Buchautorin und Lektorin von Fotobüchern schildert im Buch den Werdegang der Fotografin, geht auf einzelne Bilder und Schaffensperioden von Pia Zanetti ein, die einem beim Betrachten der Bilder und bei der Lektüre des Textes vertraut wird: Eine für Geschichten von Menschen offene Fotografin, eine Entdeckerin, eine geduldige Fotografin.
Die Fotografin richtet ihren Blick immer wieder auf schwache Menschen, auf Benachteiligte. Aus Laos und Vietnam stammen besonders bewegende Bilder. Zwei Kinder und eine Jugendliche: Das ältere Mädchen besucht keine Schule mehr. Es hat sie vorzeitig abgebrochen, um die Geschwister zu hüten. Ein «Drop-out-Child» aus Vientiane in Laos, das vorzeitig die Schule abbrechen musste, wohl um für das Einkommen der Familie zu sorgen. Und dann das Bild vom Mädchen Thu Thao aus Vietnam. Es war 18 Monate alt, als es 1974 aus Saigon in die Schweiz kam, adoptiert von Pia und Gerardo Zanetti. 1997 ist die 25-jährige Nina, so heisst nun das Kind aus Laos von früher, mit Pia Zanetti ins Waisenhaus, den Ort ihrer Herkunft zurückgekehrt in ein Land, aus dem sie stammt und in dem sie nicht aufgewachsen ist und das ihr deshalb auch fremd bleibt. Pia Zanetti fotografiert auch eine zweite Reise zu zweit dorthin. Engagierte Fotografie aber auch aus Nicaragua, wo Pia Zanetti ein halbes Jahr lebt und Menschen fotografiert, die im Krieg traumatisiert wurden.
Im Vordergrund von Zanettis Fotografie steht nicht das klassische Porträt. Und dennoch hat sie einprägsame Porträts fotografiert. Filmer Federico Fellini, Schauspieler Fernandel und Bette Davis, Modedesignerin Vivienne Westwood und Max Frisch hat sie wunderbar getroffen. Berühmtheiten, denen sie manchmal eher zufällig begegnet ist. Wer Zanettis Fotos anschaut, entdeckt keine Peoplefotografin sondern eine gesellschaftlich engagierte und weltoffene Fotografin, die grosse Reportagen in Polen, Italien, in den USA, Mittelamerika, Indien, Vietnam und Usbekistan realisiert hat. Unbedingt sehensweret!
Das Buch «Pia Zanetti, Fotografin», herausgegeben von Peter Pfrunder, ist im Verlag Scheidegger und Spiess, Zürich erschienen. Die Ausstellung in der Fotostiftung Schweiz, Winterthur, ist derzeit noch wegen den Coronamassnahmen geschlossen. Die beiden Fotografien von Pia Zanetti aus dem erwähnten Buch. Das grosse Bild aus Pozzuoli, Italien (1970), das kleinere Bild aus Südafrika: Fischer warten auf Boote, die mit ihrem Fang zurückkommen (1968).
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Dann und wann ein Bild von dieser Fotografin gesehen, aber nie etwas über sie gewusst. Filmwurf ist echte Fortbildung auf hohem Niveau. Ich lerne immer wieder etwas.