Eine Fotografie und ein Datum

Ih als 10jähriges Kind auf dem amerikanischen Fahrrad in Tel Aviv

Autor: Michael Guggenheimer

Der erste Urlaub am Strand, der alte Austin des Grossvaters, das erste Mal vor einem Fernseher. Es gibt Ereignisse aus der Kindheit, die man längst vergessen hätte, wäre da nicht ein Bilderalbum oder eine lose Fotografie im Nachlass der Eltern gewesen. 

Das bin ich auf meinem amerikanischen Fahrrad. Keiner in der Klasse, der ein solches Rad mit knallig gelben Rahmen und roten Schutzblechen gehabt hat. Ein schweres Rad mit breiten Reifen. Vorne unterhalb der Lenkstange eine Art Haken, um eine batteriebetriebene Leuchte zu befestigen, einen Dynamo hatte das Rad nicht und Fahrräder mit Übersetzungen kannten wir noch nicht.  Auf der Rückseite der Fotografie keine Jahreszahl, keine Ortsangabe. Ich schätze, dass ich damals 9 oder 10 Jahre alt war. Die Aufnahme hatte vielleicht meine um acht Jahre ältere Schwester gemacht. Allerdings kann ich mich nicht an eine Kamera erinnern. Wenn man weiss, wie die Häuser in Tel Aviv in den 50er Jahren aussahen, sieht man, dass diese Aufnahme nicht in der Schweiz entstanden ist. Viele Gebäude aus den 40er Jahren in Tel Aviv wurden an das heiße Klima Israels angepasst. Sie stehen auf Pfeilerkonstruktionen, sogenannten Pilotis, um die Belüftung zu verbessern. 

Die Fotografie, die ich in Dokumenten meiner verstorbenen Eltern gefunden habe, weckt Erinnerungen. Der Nachbar auf der anderen Strassenseite, der frühmorgens in kurzen Turnhosen auf dem Balkon seine Turnübungen zur Radio-Gymnastikstunde machte. Die Nachbarn in der kurzen Strasse, die alle aus Osteuropa oder Russland eingewandert sind. Meine Eltern, die sich strikt daran hielten, in der Öffentlichkeit kein Deutsch zu sprechen, weil Deutsch die Sprache der Mörder war. In meiner Erinnerung war unsere Strasse eine lange Strasse. Erst bei meinem ersten Besuch Jahrzehnte später sah ich, wie kurz sie doch war: je vier Häuser an jeder der beiden Strassenseiten, nicht mehr. 

Während meine Eltern an der Arbeit waren, kurvte ich mit dem amerikanischen Rad durchs Quartier. Ein Schloss hatte das Rad zu Beginn nicht, auch keine Kette, um es an einer Säule festzumachen, was bedeutete, dass ich das Rad nicht irgendwo stehen lassen konnte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mit dem Rad vor einem Wohnhaus unweit von unserer Strasse stehen blieb, weil Polizisten das Haus abgeriegelt hatten. Rudolf Kasztner hatte in dem Haus gewohnt und wurde an dem Tag ermordet. Dank Wikipedia weiss ich also, dass ich am 15. März 1957 mit dem Rad im alten Norden von Tel Aviv unterwegs war und neugierig mit vielen anderen Kindern und Erwachsenen den Polizisten zugeschaut habe, ohne wirklich zu wissen, wer Kasztner gewesen ist. 

Grossvater hatte übrigens nicht nur mir ein auffälliges Amerikanerrad aus den USA mitgebracht, sondern auch einem Cousin von mir. Schriftsteller Meir Shalev beschreibt in seinem Roman «Meine russische Großmutter und ihr amerikanischer Staubsauger» eine verwandte Situation, wie wir sie auch hatten. Grossvater hatte meinen Eltern keinen Staubsauger aus den USA liefern lassen, sondern einen grossen Kühlschrank, auf dem gross das Wort Frigidaire stand. Der Eisverkäufer, der jede Woche zweimal mit Eisblöcken für die nicht elektrischen Kühlschränke durch unser Wohnquartier fuhr, musste uns nicht mehr beliefern. 

Eingeworfen am 21.1.2024

3 Kommentare

  1. Ein paar wenige Aufnahmen, anhand derer wir ausmessen können, welche Momente als die Landmarken der Kindheit galten. In unserem Familienalbum sind fast ausschließlich Aufnahmen von Geburtstagen und Festtagen zu finden. Und immer eines zu Beginn der Wanderferien in den französischen Alpen. Eines der wenigen außerordentlichen Bilder zu zeigen, kann in unserer Generation als generöser Akt gesehen werden. Dieser Möglichkeit sind die Kinder von heute beraubt, deren Eltern unentwegt Bilder aus dem Alltag in Echtzeit veröffentlichen. Wie werden einst sie auf die Bilder ihrer Jugend zurückschauen? Auf eine Flut von Bildern, die vielleicht mitsamt einem iPhone wieder verschwindet, auf Facebook rumgeistert oder in ifolor-Sammelbänden daherkommt. Auch die Recherche- oder Erinnerungsarbeit bei unleserlichen Datums- und Ortsangaben auf der Rückseite der Abzüge entfällt. Manches Mal gab ich diese Versuche der Zuordnung von Bildern aus dem Nachlass der Eltern auf, ließ alles in der Schwebe, in diesem dunstigen Ungefähren, in welches für mich als Kind die Geschichten der Familie gehüllt waren.
    Schön, die Aufnahme mit dem Fahrrad, Sie sind wohl extra zu der Stelle mit der Mauer gefahren, um sich daran festzuhalten. Denn eine Aufnahme während der Fahrt wäre zu gewagt gewesen; man wollte doch dem Onkel kein verwackeltes Bild in die Hand geben.

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  2. Was für Erinnerungen! So ein Rad hatte wohl nicht jeder in deinem Quartier. Neid? – Auch in meiner Erinnerung spielt das erste Velo eine wichtige Rolle. Es war Mutters Fahrrad – ein schweres, riesiges, stählernes Ungetüm mit Rücktrittbremse und einem Gummi, der per Hebel aufs Vorderrad gepresst werden konnte. Damit lernten wir fahren. Auf dem Sattel konnten wir natürlich nicht sitzen. So bequem wie du hatten wir es also nicht. Stehend, den Kopf knapp auf Lenkstangenhöhe sind wir durch die Gegend gekurvt. Und damit man unseren „Töff“ auch hörte, hatten wir sehr oft eine alte Postkarte mit Wäscheklammern am Rahmen so befestigt, dass sie in die Speichen ragte. Das knatterte so wunderbar in unseren Ohren. Und es gibt auch noch Spuren aus dieser Anfängerzeit. Einmal erwischte ich die Kurve in die Nachbarstrasse nicht. Ich war zu schnell und landete auf Nachbars niedriger Mauer. Die tiefe Wunde, welche die raue Kante in die Unterseite meines Oberschenkels riss, ist ein bleibendes Mahnmal. Fotos von Mutters Fahrrad, das wir später als „Cross-Rad“ in der Kiesgrube wegen seiner enormen Stabilität liebten, gibt es leider nicht. Unser erstes eigenes Fahrrad schenkten uns die Eltern beim Übertritt in die Oberstufe, die im Nachbardorf lag.

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  3. So einen Grossvater hattest Du: Schenkt Dir ein tolles Fahrrad aus Amerika, und dann noch rot und gelb.
    Wie man Dich kennt auf dem schönen Bild!
    In kurzen Hosen.
    Ganzjährig möglich in Tel Aviv?
    Bei meiner Mutter in St. Gallen galt ja die Regel: Kurze Hosen nur in den Monaten ohne „r“.
    Welche Erleichterung und Befreiung dann aber, endlich auf die gestrickten Strumpfhosen verzichten zu dürfen.

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