Morgens in der Bahn. Und abends nochmals. Hin zur Arbeit. Und wieder zurück nach Hause. Ich habe vor Jahren auch zu den Berufspendlern gehört. Mehrere Jahre lang. Mit der Zeit kennt man die anderen regelmässigen Pendler. Auch wenn man sie noch nie gesprochen hat. Und man hat seine Gewohnheiten. Immer um dieselbe Zeit unterwegs. Immer im selben Waggon. Ich nie am Fenster und immer in Fahrtrichtung sitzend. Am Anfang habe ich häufig zum Fenster hinausgeschaut. Und es ergaben sich Fixpunkte auf meiner Strecke. Das Altersheim von Gossau, das Hotel in Uzwil, der dunkle Bahnhof von Winterthur, der Löwenbräu in Zürich. Als Pendler schaute ich mit der Zeit nicht hinaus, ich kannte die Strecke, hatte sie im Körper, steckte meinen Kopf hinter die Zeitung oder las sie am iPad. Ich bin häufig genug hin und her gefahren, die Landschaft draussen bleibt sich doch immer gleich, meinte ich.
Einer, der es anders macht, ist Joachim Leser. Von 1999 bis 2017 fuhr er regelmässig mehrmals in der Woche von Konstanz zur Arbeit nach Zürich, morgens hin, abends zurück. Seit dem Jahr 2017 findet die Fahrt auf dieser Strecke nur noch einmal wöchentlich statt, jetzt aber bis in die Nähe von Olten. Kürzlich hat er die Anzahl der gemachten Fahrten, der zurückgelegten Kilometer und der im Zug verbrachten Zeit ausgerechnet. Jahrelang jedes Jahr etwa 120 Mal befahren (und zwar hin- und zurück), was einer jährlichen Strecke von ca. 20´000 km und einer bislang bewältigten Gesamtstrecke von 350´000 km. entspreche. Insgesamt hat Bahnpendler Joachim Leser etwa 6500 Stunden auf der Zugstrecke verbracht, was einem Aufenthalt von ca. 270 Tagen in Bahnwaggons ausmacht.
2005 begann er, auf seinen Bahnfahrten zwischen Konstanz und Zürich aus dem Abteilfenster zu fotografieren, manchmal vor und manchmal nach der Arbeit. Entstanden ist eine grosse, mehr als 20 000 Fotos umfassende, Sammlung dieser Bilder zwischen Konstanz und Zürich. Hinzu gekommen ist der Bilder- und Textblog «Der Weg zur Arbeit». Seit kurzem veröffentlicht er jede Woche auf Facebook eine Serie. «Jahrelang wurde dieselbe Strecke mehrmals wöchentlich befahren und doch veränderte sich der Ort andauernd», sagt Joachim Leser. «Häuser wurden abgerissen, noch mehr Häuser wurden gebaut, die Thur trat über die Ufer und wieder zurück, die Hochhäuser schoben sich nach oben. Die Bäume wurden grün, gelb, braun, kahl. Mal war der Säntis schneebedeckt, mal im Nebel versteckt, mal von Heissluftballonen umringt. Der Mais wurde gepflanzt, er wuchs und wurde geerntet. Im nächsten Jahr war dort ein Sonnenblumenfeld. Dann wurde wieder Mais angepflanzt». Fotograf Leser hat die Bahnstrecke genau beobachtet und kann die Veränderungen einzelner Orte genau beschreiben.
Der grösste Teil der Fotos ist aber nicht im Zug entstanden, sondern ausserhalb bei den Wanderungen entlang der Bahnstrecke. Leser hat nicht nur die Landschaft beobachtet, sondern auch das eigene Verhalten als Pendler, das er so umschreibt: „Wir wohnen nicht mehr am Ort, sondern im Transport, so Paul Virilio, der Philosoph der Geschwindigkeit. Die Wanderungen mit dem Fotoapparat waren mein Weg für die Rückgewinnung des Ortes. Ich verbrachte mehr Zeit im Zug als in meinem Wohnzimmer. Ich wollte wissen, wo ich bin.“ Elemente des Pendelns finden sich auch im Arbeitsleben wieder: die strenge Taktung der Ereignisse; die voraussehbare Wiederholung der Abläufe; die zahllosen Gegenüber, die aus der Wahrnehmung fallen; die Monotonie und die Langeweile, die einen immer wieder umkreist; die Freude an kleinen Veränderungen; die Verachtung des Umweges. Pendeln ist eine ausgezeichnete Ausrichtung auf die tägliche Arbeit. Das Pendeln hinterlässt Spuren. Bei den Pendlern. Aber auch in der Landschaft, die sie täglich durchfahren.
Streckenbeobachter Leser hat zahlreiche verschiedene Aussichten aus dem Zugfenster fotografiert. «Bahnlandschaften» heisst eine grosse Serie sehr schöner Bilder, welche seine Bahnstrecke dokumentiert. Zu den Fotografien entstehen manchmal begleitende Texte. Beim Durchqueren des Zürcher Hauptbahnhofs hat er etwa jene betagte Frau fotografiert, die jahrelang fast Tag für Tag in der Bahnhofshalle im Rollstuhl sass oder sich an ihn haltend stand und die Passanten begrüsste und segnete. Frieda Bühler hat sie geheissen, der «Engel von Zürich» hat man sie genannt. Aber auch den Zürcher Güterbahnhof oder die Schrebergärten entlang der Gleise hat er mit der Kamera festgehalten. Zu sehen in seinem Blog und bei Facebook. Auf Facebook hat er zu den Bildern dieser Kleingärten diesen Text gesetzt: «An der Strecke Konstanz – Zürich liegen zahlreiche Schrebergartenanlagen, Früher wurden diese oftmals auch an ehemalige Bahnbedienstete verpachtet, die sich unmittelbar an den Gleisen ein paar Vitamine hochzogen. In Deutschland gibt es heute noch eine Zeitschrift, den „Eisenbahn-Landwirt“, der über die neuesten Entwicklungen im Bereich der Bahnlandwirtschaft informiert. In den letzten zwanzig Jahre sind einige der Schrebergärten an der Strecke verschwunden – in Konstanz und Kreuzlingen, in Berg, in Oberwinterthur, in Winterthur, in Opfikon, Oerlikon und in Zürich wurden Gartenanlagen aufgelöst. Längst in das Gelände zu wertvoll geworden, um es der Aufzucht von Kleinvieh und Gemüse zu überlassen.»
Es gibt aber einen besonderen Punkt auf der Bahnstrecke, den er in diesen Jahren immer wieder fotografiert hat. Es ist ein Baum zwischen dem Bahnhof Berg und dem Bahnhof Kehlhof im Kanton Thurgau. «Bei diesem Blick am Abend war relevant, dass ein klar erkennbares Ziel in greifbarer Nähe (der Baum) vorhanden war. Ebenso die wechselnde Ansicht des Säntis im Hintergrund. Es war bei jeder Fahrt – ob Hin- oder Rückfahrt – immer ein besonderer Moment: diese Möglichkeit, in die Weite zu schauen». «Blick am Abend» heisst diese Fotoserie mit den Baumbildern. Das sind insgesamt etwa hundert unterschiedliche Fotos. Den Baum hat er nicht bei jeder Rückfahrt fotografiert, sondern nur ab und zu. Ein halbes Jahr war es jeweils auf der Rückfahrt draussen bereits zu dunkel, um ein Bild zu machen. Die Mitreisenden hätten das Fotografieren kaum mitbekommen, denn zwischen Weinfelden und Kreuzlingen sei der Zug am Abend oft relativ leer, so dass er sich entsprechend einen Sitzplatz suchen konnte, ohne dass Mitreisende das Fotografieren mitbekommen hätten.
Joachim Lesers Absicht ist es, in seinem Blog und bei Facebook weiterhin eine Serie wöchentlich zu publizieren. Dabei gehe es ihm nicht nur um die Veränderung von Standorten, sondern auch, um Elemente und Dinge, die immer wieder auftauchen wie Kräne, oder Kinderrutschen. Befragt, ob er die vielen Aufnahmen mit dem Smartphone gemacht habe, gibt der Fotograf zur Antwort: «Der grösste Teil meiner Fotos ist mit einer Canon 5D entstanden. Inzwischen fotografiere ich mit der alten Kamera meines Vaters, eine Canon 5D Mark II. Die Fotos im Zug sind allerdings mit dem iPad gemacht worden, so auch die Serie „Blick am Abend“.» Joachim Lesers Vater war übrigens der Berufsfotograf Rupert Leser aus Bad Waldsee (D), viele Jahre lang Fotograf bei der Schwäbischen Zeitung. Gemeinsam mit seinem Bruder Markus hat Joachim Leser 2019 den Bildband «Verschwindende Welten» mit einer Auswahl von Fotografien seines Vaters herausgegeben.
Joachim Lesers Fotos von der Bahnstrecke (vgl. das kleinere Bild) sind mit einer Auswahl auf seinem Facebook-Account zu sehen sowie in seinem sehr sehenswerten Blog https://www.l-ll-l.net/
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Danke für den schönen Text – ein guter Einstieg ins neue Jahr, die Augen offen halten, auch für das Naheliegende und scheinbar Gewohnte! CN
Ein total schönes Projekt von Joachim Leser! Vielen Dank für den Bericht darüber.