Madame Yvonne”. «Photographe ambulante», hat man sie auch genannt. Ihr richtiger Name ist Yvonne Kerdudo. Sie war Fotografin in den Dörfern des Bezirks Trégor im Nordwesten der Bretagne. In der Bretagne aufgewachsen, in Paris hat sie bei einem Fotografen das Handwerk erlernt, von dem nicht bekannt ist, wer er war. Manche meinen zwar, sie hätte bei den Fotopionieren Lumière zu Beginn des 20. Jahrhunderts gearbeitet. Gesichert hingegen ist: Zurück in der Bretagne hat sie ein Fotoatelier in einer Zeit eröffnet, da solche Studios auf dem Land noch eine Seltenheit waren. Und dies in einer Periode, da Frauen in der Provinz kaum ein eigenes Geschäft betrieben haben.
Mit dem schwarzen Fahrrad war sie mit der schweren Kamera auf dem Gepäckträger, die Glasplatten im Rucksack, das Stativ auch noch dabei unterwegs zu ihren Kunden, die sie zu sich bestellten. Denn die meisten Bilder machte sie in den Dörfern in einem Umkreis von 50 Km von ihrem Atelier aus. Wobei man sich unter dem Wort Atelier nicht mehr vorstellen sollte als ein Labor und eine Ansammlung von Holzkisten, in denen die Glasplatten aufbewahrt wurden. Yvonne Kerdudo hat nie Angestellte gehabt, sie war eine Fotografin auf Achse, hochgeschätzt in der Region. Betagte Bewohnerinnen und Bewohner der Region Trégor können sich noch an die Zeit ihrer Kindheit und an die Fotografin erinnern, die manchmal das schwer beladene Rad stossen musste, um über Hügelkuppen zu gelangen. Von 1902 bis 1952 war sie von Dorf zu Dorf auf Fotofahrten zu den Kunden und hat Familien, Chöre, Belegschaften von kleinen Betrieben, Kirchgänger, Schulklassen, Musikkapellen, Hochzeitsgesellschaften, Soldaten und sogar Tote im Sarg als Erinnerung für die Angehörigen fotografiert.
1878 wurde Madame Yvonne geboren, mit 16 ist sie wie viele andere junge Mädchen vom Land nach Paris gezogen, um dort eine Arbeit zu suchen. Zunächst arbeitete sie in der Krankenpflege und wurde Krankenschwester. Wie sie zur Fotografie gekommen ist, weiss man nicht wirklich, vermutet aber, dass sie die Familie Guilleminot kennengelernt hat, seinerzeit Besitzer der grössten Firma für photographische Glasplatten. Nach Plouaret, einer Gemeinde mit 2000 Einwohnern etwa zehn Kilometer südlich von der Atlantikküste entfernt, ist sie gezogen, wo sie sich als Fotografin niedergelassen hat. Weil die Tätigkeit als Fotografin zu Beginn etwas unsicher war, arbeitete sie zunächst gleichzeitig auch noch als Krankenschwester. In den Wohnzimmern mancher Familien in der Gegend hängen noch heute Fotos von Vorfahren, die sie gemacht hat.
1954 ist Yvonne Kerdudo gestorben. Über 50 Jahre lang lagen ihre Fotoplatten in einem Speicher. Bis eine Nichte 13 400 Glasplatten der Compagnie Papier Théâtre in Le Vieux-Marché angeboten hat. Ausser den Fotoplatten fanden sich im Speicher keine schriftlichen Dokumente von Yvonne Kerdudo. Geblieben sind die Fotoplatten, ihre Bilder von den Menschen ihrer Umgebung, die heute in Ausstellungen gezeigt werden und in einem sehr schönen voluminösen Bildband mit dem Titel «Madame Yvonne» herausgegeben wurden. Eine Gruppe von Freiwilligen hat in mehrjähriger Arbeit die Platten gereinigt, geordnet, digital gesichert, möglichst präzis datiert und in Gesprächen mit älteren Bewohnern im Rahmen eines Oral History Projektes die Namen der abgebildeten Personen und Gruppen erhoben. Ein Video im Internet zeigt die Befragung der alten Dorfbewohner, die ihre Erinnerungen an die Fotografin erzählen. Bei rund 8000 Bildern konnten die Bearbeiter der Fotos genauere Daten erheben. Und immer wieder melden sich noch heute Leute, die die Bilder gesehen haben mit Erzählungen und Details zu den Abbildungen.
Betagte Einwohner der Region können sich noch daran erinnern, wie Yvonne ihr Stativ aufgestellt, wie sie die schwere Kamera mit dem schwarzen Tuch darauf fixiert hat und dann die Hochzeitsgesellschaft oder die Schulklasse so platziert hat, dass sie das Bild so machen konnte, wie sie es wollte. Ihre Klassenbilder zeigen, wie gross in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts Schulklassen sein konnten: Bis gegen 40 Schülerinnen und Schüler zählten sie noch. Hatte eine Familie Fotografien von sich machen lassen, wollten die Nachbarn ebenfalls Bilder von sich haben, erinnert sich Marie-Reine Perret. Zeit ihres Lebens arbeitete Yvonne Kerdudo mit Fotoplatten, den Wechsel zum wesentlich handlicheren Rollfilm hat sich nicht mitmachen wollen. Gestochen scharf sind ihre Schwarzweiss Bilder, die Menschen, die sie porträtiert hat, schauen die Fotografin direkt an, die bei der Aufnahme hinter einem schwarzen Tuch versteckt blieb. Madame Yvonne scheint eine unglaubliche Geduld mit den Porträtierten gehabt zu haben. Sie soll immer mindestens zwei Bilder von ihnen gemacht zu haben. Und sie soll einen Spass daran gehabt haben, die Porträtierten und die Gruppen mehrmals neu zu platzieren, bevor sie die Aufnahme machte.
«Madame Yvonne», erschienen bei Filigranes Editions / Compagnie Papier Théâtre, Trézélan (F). Beide Bilder im erwähnten Bildband.
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