Er kommt immer dann, wenn die Veranstaltung bereits angefangen hat.
Regelmässige Besucherinnen und Besucher von Lesungen und Vorträgen, von Vernissagen und Jazzkonzerten kennen ihn, auch wenn die meisten seinen Namen nicht kennen. Er kennt keine Hemmungen. Er schafft es, während der Lesung an der Autorin, die gerade aus ihrem Erstling vorliest oder am Referenten vor den Augen der Zuhörer vorbeizuhuschen, um an der Seite des Podiums unauffällig-auffällig zu knien oder hinzustellen und zu fotografieren. Er ist Veranstaltungsfotograf. Er schaut sich im Magazin mit dem kulturellen Wochenprogramm genau um, er hält das kulturelle Leben der Stadt seit Jahren in Bildern fest. Sein Archiv mit Bildern von Autoren, Jazzmusikern, Professoren, Malern und Bildhauern ist immens gross. Seine schwarze Kamera mit dem grossen Teleobjektiv ist schwer. Immerhin hat er irgendwann aufgehört, an Veranstaltungen zu blitzen. Ein Veranstalter hatte ihm mitgeteilt, er werde ihn mit einem Hausverbot belegen, wenn er weiterhin an Veranstaltungen blitzen würde. Das Summen des Kameramotors könne er nicht abstellen, sagt er. Weil er manchmal mehrere Veranstaltungen am selben Abend besucht, kommt er immer zu irgendeiner Veranstaltung, manchmal sogar zu mehreren Veranstaltungen, zu spät. Dass die Veranstalter ihn dennoch gewähren lassen, hat mit der Eitelkeit der Organisatoren und der Künstler zu tun. Denn er ist es, der festhält, dass eine Veranstaltung gut besucht wurde. Sie melden sich noch am selben Abend mit einem Mail bei ihm, ersuchen ihn um die Zusendung von Bildern, für ihre Homepage oder für den Jahresbericht, für die sie auch zu zahlen bereit sind. Sie nehmen die Störung in Kauf, die besonders dann unangenehm wird, wenn er sich auf der Bühne oder hinter dem Referenten hinstellt und ein Bild vom Publikum macht.
Genauso wie er zu spät kommt, verlässt er lange vor dem Ende der Veranstaltung wieder den Raum, was alle mit Erleichterung zur Kenntnis nehmen.
Weshalb schafft er es aber immer noch nicht, die Türe zum Veranstaltungsraum leise zu schliessen? Immerhin hat er an einem Ort etwas gelernt: Im städtischen Erzählcafé erscheint er stets eine halbe Stunde vor Veranstaltungsbeginn und fotografiert dort die Gastautorin oder den Gastautor vor Beginn der Lesung, immer vor demselben Wandbild oder im Treppenhaus. Er notiert sich jeweils eilig den Namen der fotografierten Person, bei Gästen aus dem Ausland lässt er diese ihren Namen in sein schwarzes Heft schreiben, die Bildlegenden stimmen dann immer. Und so wie sich die Fotografierten seinen Namen nicht merken können, so kennt er die Bücher der Fotografierten nicht, weil er stets weiterziehen muss. „Macht nichts“, hat er mir schon gesagt, „Hauptsache, ich habe sie im ‚Kasten’“.
Eingeworfen am x.x.202x
Oh ja, diesen Fotografen kenne ich. Es gibt ihn auch in ländlichen Ausführungen. Charles