Meine Mutter hat im Alter von dreizehn Jahren die Stadt ihrer Kindheit in Deutschland für immer verlassen müssen. Ihr Vater, Zahnarzt in Görlitz, wurde zweimal in Schutzhaft genommen. Angeblich um ihn vor Braunhemden zu schützen. In Wahrheit ging es darum, jüdische Intellektuelle einzuschüchtern. Ein Rechtsanwalt, ein Apotheker und ein Arzt wurden damals ebenfalls verhaftet. Als sie freigelassen wurden, mussten sie barfuss nach Hause gehen. Eine Art der Demütigung. Nach der zweiten Verhaftung beschlossen mein Grossvater und meine Grossmutter, Deutschland heimlich zu verlassen. Das war 1933. Unerhört früh. Mein Grossvater war ein politisch wacher Mensch, der früh realisiert hatte, dass das Leben in Deutschland für ihn und für seine Familie gefährlich werden könnte. An einem Wochenende überquerten meine Grosseltern mit ihren beiden Kindern heimlich die Grenze zur damaligen Tschechei. Grossvater und Grossmutter nahmen in Triest ein Schiff nach Palästina, meine Mutter und ihr Bruder blieben vorerst noch mehrere Monate lang bei Freunden in Prag, bis auch sie über Triest nach Haifa übersetzten. Auf die Flucht mitgenommen haben sie kaum etwas.
Aus der Zeit ihrer Kindheit in Deutschland gab es einige wenige Fotos, die heute in meinem Besitz sind. Zum Beispiel ein Bild von Mutter als Schulkind inmitten anderer Kinder. Eine Klasse auf einer Wiese, im Hintergrund eine Burg. Die Klasse auf einem Ausflug. Heute weiss ich, dass diese Burg keine Burg war, sondern bloss eine Gaststätte oben auf der Landeskrone, einer vulkanartigen Erhebung am Rande der Stadt Görlitz. Dann ist noch ein anderes Bild aus jener Zeit der Kindheit erhalten geblieben: Grossvater mit einer Zigarre in der Hand, ein stattlicher Mann, von dem mir Freunde sagen, ich gleiche ihm, wenn ich ihnen das Bild zeige. Kein wirklicher Hintergrund ist auf dem Bild erkennbar, kein Haus, das ich heute suchen könnte. Keine Bilder von der Wohnung. Keine Fotos vom Haus, in dem sie gewohnt hatten.
Dafür ist da noch eine Fotografie von meiner Grossmutter mit den beiden Kindern an der Ostsee. Das Mädchen ist meine Mutter, das Bild könnte 1926 aufgenommen worden sein. Ich nehme an, dass ein Strandfotograf das Bild aufgenommen hat. Grossvater, der auf dem Bild fehlt, hatte keine Kamera. Zudem verbrachten Grossmutter und die beiden Kinder die ersten Wochen der langen Sommerferien zu dritt. Mein Grossvater hatte in der Zahnarztpraxis zu tun. Ich nehme an, dass ihn eine Freundin in Görlitz oder anderswo von einem längeren Ferienaufenthalt mit der Familie zurückhielt. Mein Onkel als Junge im Matrosenanzug, die Grossmutter, die ich nie kennengelernt habe, als junge Mutter mit einem Sonnenschirm. Mutter meinte, es sei auf Rügen aufgenommen worden. Ein Strand, im Hintergrund ein Haus, vielleicht ein Strandrestaurant. Meine Mutter als etwa achtjähriges Mädchen, ihr Bruder zwei Jahre älter. Alle drei sorglos. Noch wissen sie nicht, dass sie sieben Jahre später ihre Heimat für immer werden verlassen müssen.
Eingeworfen am 8.7.2020
Filmwurf wird mit jedem Bild zum Geschichtenwurf. Und das ist wirklich ein Wurf.
Was das alte Foto erzählt: Das, was war war, was sein hätte können, aber nicht mehr sein durfte und was geworden ist.
Aus der Zeit gefallen, in die Zeit gefallen.
Der Einwurf macht das Unsichtbare sichtbar.
Ja, ein Geschichtenwurf – und ein Geschichtenentwurf.
Du und ich in Görlitz, du und ich auf dem Grab deines Grossvaters – Orte der Erinnerung, Orte, an denen deine Familie so nahe ist. Erzählungen, in denen Geschichte und Schicksal spürbar werden. Heiss und kalt rieselt es mir den Rücken hinab.