Die nie porträtierte Porträtfotografin

Eine junge Frau, es ist Marlene Dietrich als Jugendliche, schaut die Fotografin an

Autor: Michael Guggenheimer

Im Jahr 1930 gab es in Berlin gemäss Angaben des Berliner Adressbuchs 600 eingetragene Fotoateliers. Mehr als hundert wurden von Frauen geführt. Unter ihnen auch das 1913 eröffnete Atelier von Charlotte Joël und Marie Heinzelmann. Charlotte Joël hat so bekannte Personen wie Martin Buber, die 17jährige Marlene Dietrich (im Bild), Karl Kraus, Walter Benjamin mehrfach fotografiert. Und doch wissen wir nicht, wie die Fotografin selber aussah oder welche Kameras sie bei ihrer Arbeit verwendet hat. Ebenso wenig sind Negative aus ihrem Atelier erhalten geblieben. Auch ist nichts über ihre Schul- und Berufsausbildung bekannt. Während andere Fotografen zu jener Zeit die Porträtierten in deren berufsbezogene Umgebung stellten, verzichtete Charlotte Joël darauf. Bei ihr galten das Gesicht, die Ausstrahlung, die Person, aufgenommen wurden die Porträtierten im Atelier der beiden Fotografinnen ohne Kunstlicht. Breite Bekanntheit erfuhren ihre Porträts von Karl Kraus, die es auch als Postkarten gab. Wenn irgendwo noch heute Zeitungsredaktionen oder Buchverlage Portraits von Walter Benjamin oder Karl Kraus benötigen, dann greifen sie auf Fotos von Charlotte Joël zurück. Nach der Machtergreifung der Nazis musste Charlotte Joël ihre Teilhaberschaft am Atelier der nicht-jüdischen Kollegin Heinzelmann abgeben. Selten fotografierte sie noch im Atelier. Weshalb sie Deutschland nicht rechtzeitig verlassen hat, ist nicht bekannt. Fotografinnen wie Marianne Breslauer, Gisèle Freund, Lotte Jacobi haben hingegen Deutschland verlassen und konnten im Ausland wieder arbeiten und Bekanntheit erlangen. Charlotte Joël wurde 1943 verhaftet, landete zuerst im KZ Fürstenwalde und wurde von dort in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert, wo sie im Alter von 56 Jahren ermordet wurde. Alles Wissen über sie, über ihre Bilder, erfährt man einzig durch ihre Arbeiten, über die Personen, die sie porträtierte, aus Briefen, Beschreibungen, Erinnerungen ihres Bekanntenkreises. Friedrich Pfäfflin ist in jahrelanger Arbeit dem fotografischen Werk von Charlotte Joël nachgegangen, im Wallstein Verlag (Göttingen) hat er mit Werner Kohlert, der der Biografie der Fotografin nachgegangen ist, unter dem Titel «Das Werk der Photographin Charlotte Joël » 200 Porträtaufnahmen von bekannten Persönlichkeiten publiziert.

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