Mit einer Kamera unterwegs

Das Bild der sieben Leute in Kraneburg

Autor: Michael Guggenheimer

Ein Gemälde, das wie eine Fotografie aussieht. Gemalt nach einer Fotografie eines Malers. Und ein Objekt fällt auf: Eine Kamera.

Das Bild habe ich schon mehrmals gesehen. Sowohl im Museum als auch in Katalogen oder auf Ansichtskarten. Jetzt im Frühling 2023 wieder im Aargauer Kunsthaus im Rahmen der Ausstellung «Sammlung 23. Kunst aus der Schweiz vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart». Das Format 2 auf 3 Meter. Zu sehen sind sieben Personen zu Fuss unterwegs. Ja, sie sind eindeutig am Gehen. Ungewöhnlich ist die Sicht von hinten. Keine Gesichtszüge sind zu sehen. Der Blick des Bildbetrachters ruht auf die Kleidung und auf die Bewegung der gemalten Personen. Wo sie unterwegs sind? Es könnte eine Ausfallstrasse einer Ortschaft sein, keine besonders schöne Strasse.

Der Maler der Schweizer Franz Gertsch. Die Strasse, unschwer zu erkennen, befindet sich nicht in der Schweiz: Baumaterialien und Verkehrsschilder machen es deutlich. Die Abgebildeten sind fast so gross wie die Betrachter, die sich im Museum das Gemälde anschauen. Sechs der sieben Personen bewegen sich in Zweiergruppen, eine Person hat sich leicht abgesondert, bildet aber eindeutig Teil der Gruppe, auch wenn man den Eindruck hat, sie würde stehen. Einer hält in der Hand eine Agenda, es könnte auch ein Notizblock, ein Tagebuch oder ein Buch sein, keinesfalls ein Tablet, das Bild stammt nämlich aus dem Jahr 1970. Einer ist mit einer Kamera unterwegs. Klar, eine analoge Kamera. Sie sieht nach einer Spiegelreflexkamera aus. Eine Minolta SRT 101 oder SRT 303? Es könnte eine Olympus OM 1 sein. Oder noch lieber eine Nikon F. Eine Leica oder Alpa ist es nicht.

Einer Info des Aargauer Kunsthauses ist zu entnehmen, wer die in Rückenansicht zu sehenden Personen sind. Von links nach rechts: Markus Raetz, Jean-Christoph Ammann, Monika Raetz, Maria Gertsch, Pablo Stähli, Balthasar Burkhard und der holländische Theaterpionier Ritsaert ten Cate. Der Mann mit der Kamera ist also der Fotograf und Künstler Balthasar Burkhard. Die Kamera in der Handschlaufe als Erkennungszeichen. Könnte es sein, dass Galerist und Verleger Pablo Stähli auch eine Kamera trägt? Wenn man seinen Nacken genau anschaut, meint man, den Tragriemer einer Kamera zu erkennen. Ob Besucher des Museums seinerzeit die Personen von hinten wohl erkannt haben? War’s der Maler, der auf der Rückseite der Leinwand für spätere Zeiten die Namen notiert hat? Wir wissen, dass die Vorlage für das Gemälde eine Fotografie war. Hat der Fotograf die Namen der Personen auf einem Beiblatt bei seiner Diasammlung vermerkt?
Das Bild trägt den Titel Kranenburg. Das könnte der Name einer deutschen oder einer holländischen Ortschaft sein. Die rötlichen und etwas weiter entfernt die bräunlichen Backsteinmauern verweisen auf das so häufig anzutreffende Baumaterial im Norden Deutschlands und Hollands. An der Hausmauer rechts ist das Wort GROSS erkennbar. Im Haus könnte sich eine Kneipe befinden. Wie so oft hilft Wikipedia weiter: «Die Gemeinde Kranenburg liegt am unteren Niederrhein im Nordwesten von Nordrhein-Westfalen und ist eine kreisangehörige Gemeinde des Kreises Kleve im Regierungsbezirk Düsseldorf. Sie liegt an der niederländischen Grenze bei Nijmegen».

Was machen Fotograf Burkhard, Maler Markus Raetz, Galerist Pablo Stähli, Ausstellungsmacher Jean-Christophe Ammann und der holländische Theatermann in Kranenburg? Sie sind auf dem Weg an die Vernissage der Ausstellung des Schweizer Malers Franz Eggenschwiler und der „Berner Werkgemeinschaft“ bei den Brüdern van der Grinten in der Kleinstadt Kranenburg. Kranenburg zählt heute etwa mehr als 11000 Einwohner. Damals waren es nicht so viele Einwohner. Heute sucht man vergebens eine Galerie dieses Namens in Kranenburg. Denn die Kunstaktivitäten van der Grintens finden heute in Köln statt. In der gleichnamigen Galerie werden zeitgenössische Künstler mit Fotografie, Zeichnungen, Papierarbeiten, Malerei und Skulptur ausgestellt. Kunsthistoriker Markus Klammer in Basel weiss in einem Aufsatz genau, weshalb die Schweizer Gruppe und der holländische Theatermann in Kranenburg unterwegs sind: «Seit Anfang der 1950er-Jahre organisieren die Brüder Franz Joseph und Hans van der Grinten mehrere im nachhinein wichtige Kunstereignisse in diesem Provinznest, (1953 erstmals mit Joseph Beuys.) Zu diesem Anlass sind verschiedene Künstlerfreunde und Kunstvermittler von der Provinz in die Provinz gereist». Meint Markus Klammer mit Provinz die Gegend um Bern? Vielleicht meint er, Provinz sei überall.

Wie jung diese Schweizer Künstler damals noch sind! Gertschs Bild ist immerhin vor etwas mehr als 50 Jahren gemalt worden. Maler Gertsch ist Ende 2022 verstorben, Raetz, Stähli, Ammann, Burkhard und van der Grinten leben ebenfalls nicht mehr. Der Malerei von Franz Gertsch ist in Burgdorf ein Museum gewidmet. Dort hängen seine monumentalen Bilder, die von der Ferne manchmal wirken, als handle es sich bei ihnen um riesige Fotografien, Porträts und Naturbilder, sie wirken so als hätten vergrösserte Fotovorlagen mittels Diaprojektion direkt auf die Leinwand beim Malen gedient. Kranenburg kann im Shop des Museums in Burgdorf als Ansichtskarte in der Grösse 10,5 × 14,8 cm für Fr. 2.- gekauft werden. Und wirklich, die Karte sieht so aus, als sei sie fotografiert worden.

Die analoge Kamera in der Hand des Fotografen

Fotografie spielt denn in Gertschs Werken eine Rolle. Gerade auch beim Bild von den sieben Personen auf dem Weg zur Galerie in Kraneburg. Dazu Karoliina Elmer, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Aargauer Kunsthaus, in ihrem Text auf der Homesite des Museums in Aarau: «Ausgangspunkt für das Bild ist die Fotografie, mit deren Hilfe er einen bestimmten Moment festhält. Der Künstler fotografiert sein Motiv so oft, bis ihm ein Abbild vorliegt, das seiner Vorstellung einer geeigneten Vorlage entspricht. Im abgedunkelten Atelier malt Gertsch akribisch zonenweise die auf den Bildträger geworfene Diaprojektion».

Internationale Bekanntheit erlangte Gertsch durch seine grossformatigen hyperrealistischen Porträts. Kunstkritikerin Sabine Altorfer von der Aargauer Zeitung fasste Gertschs Malkunst einst so zusammen: «Er hat in seiner jahrzehntelangen Karriere seinen Stil und die Technik mehrmals gewechselt. Aber nie seine Liebe, realistische Bilder in poetische Kunstwerke zu verwandeln.» Bleibt am Schluss die Frage, weshalb Maler Gertsch den Fotografen Burkhard mit der Kamera in der Hand besonders erkennbar gemacht hat. Ist es Gertschs Nähe zur Fotografie, die ihm immer wieder bei der Verfertigung seiner Gemälde mittels Diaprojektion gedient hat? Ist’s eine Hommage an die Schweizer Künstler seiner Zeit und auch an die Fotografie? Maler Franz Gertsch war auch ein Fotograf. Eine Ausstellung seiner Fotografien könnte spannend sein.

Eingeworfen am 3.4.2023

1 Kommentar

  1. Geweldig!
    Een heel interessant werk.
    Ik ben van plan weer eens naar Burgdorf te gaan.

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte Sie auch interessieren