Plötzlich interessieren sich die Schweizer Medien für den Autor Lukas Hartmann. Auslöser dieses konzentrierten Interesses ist der angekündigte Rücktritt von Simonetta Sommaruga, seiner Gattin, aus dem Bundesrat, der Schweizer Regierung. Und Auslöser ihres überraschenden Rücktritts ist wiederum seine Hospitalisierung wegen eines Hirnschlags. Lukas Hartmann ist 78 Jahre alt. Seine Frau, 16 Jahre jünger als er, will sich um ihn kümmern, für ihn da sein. Ihr ist seine Gesundheit und ihr Zusammensein wichtig.
Niemand, der das nicht nachvollziehen könnte. Zeitungstexte erscheinen, der Autor, dessen Name sonst in den Feuilletons vorkommt, ist auf einmal auch für die Inlandteile der Zeitungen von Interesse. «Der Schriftsteller neben der Bundesrätin» wird Thema. Auch von wieder aufgewärmten Homestories. Der Zufall will, dass kurze Zeit zuvor ein neuer Roman von ihm erschienen ist. Die Kulturjournalisten, die über den Autor schreiben, scheinen sich einig zu sein: Lukas Hartmanns Themen als Buchautor kreisen immer wieder um Stoffe aus der Schweizer Geschichte. Ein Literaturredaktor der Aargauer Zeitung stellt in seiner Beurteilung von Hartmanns Büchern zunächst sich selbst in den Mittelpunkt des eigenen Textes, lässt uns wissen, dass er «starke Vorbehalte gegen Hartmanns Methoden hatte». Er sei Lukas Hartmann aus dem Weg gegangen. «Ins Unbekannte», das jüngste Buch Hartmanns ist eine Doppelbiografie des Schweizer Kommunisten Fritz Platten und der russisch-jüdischen Psychoanalytikerin Sabina Spielrein. Wieder ein historischer Schweizer Stoff also.
Drehen sich Hartmanns Romanstoffe wirklich nur um die Schweiz? Nein, schreibt Literaturkritiker Charles Linsmayer: «Hartmanns Romane spielen oft in fernen Ländern. So stellt «Die Seuche» (1992) der mittelalterlichen Pest in Bern den ugandischen Aidskranken Sam Ssenyonja gegenüber, während «Die Tochter des Jägers» (2002) in die kenyanischen Grosswildjagdgebiete der 1920er-Jahre führt und der Maler John Webber die Südsee «Bis ans Ende der Meere» (2009) bereist. In «Abschied von Sansibar» (2013) ist die Kindheit einer Prinzessin auf eben dieser Insel beschrieben, und «Ein Bild von Lydia» (2018) spielt zu wesentlichen Teilen in Florenz und Rom.»
Ein Buchtitel, den einzig Linsmayer erwähnt , ist Hartmanns exakt vor vierzig Jahren erschienene erste Buch «Mahabalipuram oder als Schweizer in Indien. Ein Reisetagebuch». Im Buchhandel ist Hartmanns Erstling längst nicht mehr erhältlich. In der Bibliothek, in der ich das Buch hole, stellt die Bibliothekarin fest, dass das Buch seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr ausgeliehen worden sei und will wissen, wie ich dazu komme, dieses Buch auszuleihen. Mahabalipuram ist eine Erinnerung. Ich weiss, dass ich das Buch einst besessen habe. Ich weiss, dass ich das Buch gemocht habe. Vierzig Jahre nach der Publikation lese das Buch wieder und stelle fest, wie sehr sich Indien, wie sehr sich unsere Sicht von Indien verändert hat. Hartmann schildert eine Reise durch das grosse Land in Begleitung seiner ersten Frau. Er ist Journalist, er beobachtet Menschen und Sitten des Landes, er sieht die Armut im Land und denkt über den Wohlstand in der Schweiz nach. Noch ist Indien nicht jenes Land mit grosser Industrie und wichtige Basis im Bereich der Datenverarbeitung. Literaturwissenschaftler Charles Linsmayer meinte einst, Hartmanns Indienbuch sei «ein Buch über eine Indienreise, das nach wie vor zu verzaubern vermag».
Wie aber kommt Lukas Hartmanns Indienbuch in diesen Blog, bei dem es um Fotografie geht? Als jemand, der sich für Fotografie interessiert, rieche ich gewissermassen fotografische Themen in Büchern von weitem schon, stolpere über sie. Zum Beispiel dieses hier: Hartmann schildert in Maharabalipuram einen wenig sympathischen Schweizer, dem er in Indien begegnet. «Einen halben Koffer Geschenke schleppe er jeweils mit», erzählt der Schweizer. «Spielzeug und Kugelschreiber für dreihundert Franken oder mehr. Überall, wo er auftauche, sei er sogleich von Kindern umringt. Und Polaroidfotos, die er von den Indern knipse, verschenke er zu Dutzenden. Aber diese Hanswürste hätten bei der Sicherheitskontrolle im Flughafen die Filme zerstört, mit Röntgenstrahlen oder so, acht teure Filme einfach futsch». Als Lukas Hartmann leise Zweifel anmeldet, «holt der Schweizer grimmig die Kamera aus seiner Plastiktasche. Er pfeift den Kellner herbei, der am Nebentisch serviert, und schiesst von ihm, ehe er sich’s versieht, eine Blitzlichtaufnahme. Als der Film geräuschvoll aus der Kamera herausgespult wird, verwandelt sich die Konsternation des Kellners in überschäumende Freude. Mit einem kleinen Hüpfer, laute Rufe auf Malayalam ausstossend , eilt er zu seinen beiden Kollegen, die begeisterteranflitzen, um sich ebenfalls ablichten zu lassen». Der Schweizer Tourist, «ununterbrochen weiterredend, fotografiert, es blitzt, mit erstarrten Gesichtern blicken die Kellner in die Kamera. Man sehe, sagt – -klick – der Landsmann, auf den Fotos noch knapp die verschwimmenden Umrisse, aber die Leute – klick – konnten sich darauf immerhin selber erkennen». Wie kleine Kinder hätten sie sich benommen, meint der Schweizer.
Hartmann beobachtet und beschreibt Indien und die Inder, sich selbst und was mit ihm in Indien passiert, beschäftigt ihn. Ebenso die arrogante Art wie Europäer auf Indien und die Inder blicken. Hartmann beobachtet die Armut im Land, macht sich Gedanken über das Leben in Indien. Die Distanz zur Schweiz lässt ihn aber auch über seine Heimat denken: «Nachdenken über die Schweiz. Ausgerechnet hier? Gerade hier; hier bin ich angewiesen auf eine benennbare Identität wie auf eine zweite Haut.» Er verbindet mit seinem Bericht einen ganz bestimmten, persönlichen Zweck: «Reisen als Aufbruch. Zu Unvertrautem? Zu sich selbst? Die Sehnsucht, Grenzen zu sprengen (innere? äussere?). Unterwegs sein, wochenlang; sich nicht festlegen lassen (und die Schwierigkeit, sich nicht festlegen zu wollen).» Literaturwissenschaftler Linsmayer meint: «Die Sicht auf die Schweiz mag sich in den vierzig Jahren seit Erscheinen dieses Reisebuchs verändert haben, von ungemilderter Frische aber ist nach wie vor der spontane Blick auf ein Indien, das durch die Neugierde, die Aufnahmebereitschaft, aber auch durch den Erlebnishunger und die sinnenfreudige Erzähllust eines begabten Chronisten auf schillernd-vitale Weise verzaubert erscheint.»
Gute Besserung, Lukas Hartmann!
Die zitierten Stellen aus einem Text von Charles Linsmayer zur Schweizer Literatur aus einem Beitrag von ihm für die Auslandschweizer Organisation. „Mahabalipuram“ ist beim Verlag der Arche, Zürich, erschienen. Das leicht verkleinete Porträtbild von Lukas Hartmann hat Fotografin Ayse Yavas gemacht, die seit über 20 Jahren systematisch Schweizer Schriftstellerinnen und Schriftsteller fotografiert. Vielen Dank!
Eingeworfen am 9.11.2022
0 Kommentare