Fotoerzählerin der Erinnerung

Das Buchcover von Bettiuna Fitners "Meine Schwester"

Autor: Michael Guggenheimer

«Hier ist meine Schwester und dahinter bin ich, wir spiegeln uns im Glas. Ich sehe sie an und sie mich, das Spiegelbild der anderen. Die Kamera ist auf uns gerichtet. Ich drücke auf den Auslöser, die Blende öffnet sich eine dreissigstel Sekunde lang, eine Ewigkeit».

So beschreibt die deutsche Fotografin Bettina Flitner die Fotografie, die auf dem Cover ihres Buches «Meine Schwester» zu sehen ist. Und sie ergänzt in einem Interview: «Ich erinnere mich seltsamerweise sehr genau an diesen Moment, weil ich damals wusste – und ich glaube, meine Schwester auch –, dass sich jetzt unsere Wege trennen. Sie ging nach Essen, ich ging nach Köln. Wir hatten uns bereits auseinanderentwickelt und trafen uns noch einmal im Haus meines Vaters. Ich hatte gerade meine erste Kamera erstanden und gesagt: «Komm, lass uns doch ins Badezimmer gehen und ein Foto machen.»

Bettina Flitner ist eine der bedeutenden Fotograf*innen Deutschlands. Sie ist Mitglied der renommierten deutschen Fotoagentur laif. Ihre Bilder erscheinen regelmässig in Zeitschriften und Zeitungen, mehrere gewichtige Bildbände hat sie in den letzten Jahren veröffentlicht. «Meine Schwester» ist ihr erstes Textbuch. Erzählen ist ihr aber alles andere als fremd. Ganz im Gegenteil. Barbara Flitner erzählt in ihren Fotobänden Lebensgeschichten von Menschen. «Meine Schwester», ein reiner Textband, liest sich wie ein Roman, ist aber keineswegs ein Roman. Vielmehr ist’s eine durchlebte Geschichte und die Verarbeitung einer Beziehung und von Erinnerungen an die Schwester und an eine Familie und deren langsame Auflösung. Die Personen, die im Buch vorkommen, die beiden Schwestern, ihre Eltern, Grosseltern, Freunde und Lebenspartner kommen alle mit Realnamen vor. Schonungslos werden die Konflikte der Eltern dargestellt. Schonungslos und offen sind auch die Beschreibungen von eigenartigen Verhaltensweisen der Familienmitglieder. Schwester Susanne etwa erscheint eines Tages zu Besuch bei der Fotografin. Sie trinkt kein Wasser aus der Leitung und bringt daher genügend viele Mineralwasserflaschen für den Besuch mit und ist ausgerüstet mit Crèmes für jede Körperpartie. Die erzählten Leben im Buch kreisen um den Selbstmord der Mutter und um denjenigen von Susanne, Bettina Flitners Schwester. Bereits zu Beginn des Buchs ist klar, dass die Schwester sich umgebracht hat. Doch durch das ganze Buch hindurch zieht sich die Ungewissheit über den Verbleib der Schwester. Die Zeitebenen im Buch wechseln sich ab, was eine Spannung bei der Lektüre erzeugt.

Susanne ist die ältere der beiden. Und so wie es in Familien immer wieder Rollen und Zuschreibungen gibt, hat es sich in der Kindheit und Jugend der beiden Schwestern verfestigt, dass Susanne nunmal die hübsche ist und Bettina die gescheite. Darunter hat Susanne gewiss gelitten. Dabei erweist sich Susanne als eine witzige und wagemutige Person. Depressive Verstimmungen machen sich im Laufe ihres Lebens bemerkbar. Und sie ist nicht die einzige in der Familie, die unter Depressionen leidet. Die Mutter der beiden hatte solche dunkle Phasen. Hätte sie merken sollen, wie schwer die Verstimmungen ihrer Schwester sind und wohin sie führen könnten, fragt sich die jüngere Schwester wiederholt.

Neun Bildbände hat Bettina Flitner herausgebracht. Ein Merkmal ihrer Fotobücher ist nicht nur die Art ihrer dokumentarischen Bilder. Bettina Flitner erzählt in Bildern und Texten Geschichten, sie kombiniert Bild und Text, setzt in ihren dokumentarischen Arbeiten meist Zitate der Porträtierten ein. Die deutsch-deutsche Geschichte, die Spuren der ehemaligen DDR, das Erbe der Teilung Deutschlands sind wichtige Themen ihrer freien Arbeiten. Der Fall der Mauer sei der Auslöser gewesen, der Moment, an dem sie zu fotografieren begann, hat sie in einem Interview gesagt. Persönliche Geschichten von Menschen schildert sie in ihren Fotos und Texten. Fragen stellen gehört zu den Merkmalen ihrer Arbeiten. Eine Frage begleitet sie in ihrem Textband.

Der ostdeutsche Politiker André Brie meinte an der Eröffnung einer Fotoausstellung von Bettina Flitner, sie sei eine «Fotografin der Erinnerung der Menschen an die DDR. ». Im Buch «Meine Schwester» erinnert sich an eine Arbeit über Spuren der DDR: «Das Foto von den beiden roten Fahnen, die ich auf dem Speicher einer Landwirtschaftlichen Genossenschaft entdeckt und fotografiert hatte. Eine Zeitung hatte es bestellt. Ich hatte es vor ein paar Jahren gemacht. Damals zu 25 Jahre Mauerfall, hatte ich einige Wochen in einem Dorf in Mecklenburg-Vorpommern verbracht, im ‘Sozialistischen Musterdorf Mestlin’. Anfang der 1950er Jahre erbaut, lebten in diesem Dorf immer noch Menschen in den Kulissen eines vergangenen sozialistischen Traums. Ich wohnte am Marx-Engels-Platz und fotografierte die Gebäude und die Einwohner und fragte sie nach ihren Erinnerungen. Für die Älteren war die DDR ihre Geschichte, die Jungen wussten oft gar nichts mehr. Es ging nicht nur um Erinnerung, sondern auch um den Verlust von Erinnerung. Das hatte sich im Laufe der Arbeit herausgestellt». In der Süddeutschen Zeitung stand zu lesen: „Bettina Flitner, ihr Name gilt schon seit langem als ein Markenzeichen für eigenwillige Foto-Konzepte, die oftmals einen dokumentarischen Charakter haben, aber meist ganz persönliche Geschichten erzählen. […] Behutsam spielt Flitner mit Kontrasten. Nie wirken jene Bilder komponiert oder aufgesetzt. Es scheint fast so, als sei sie wie durch ein durchsichtiges Band auf magische Weise mit den Persönlichkeiten verbunden“. Für ihren Porträtband Frauen mit Visionen, hat sie ganz Europa bereist und Frauen, die den Kontinent über ihr eigenes Land hinaus geprägt haben, porträtiert, Staatschefinnen wie Menschenrechtlerinnen, Künstlerinnen wie Schriftstellerinnen. Für ihre Arbeit mit dem Titel Frauen die forschen, hat sie 25 deutsche Spitzenforscherinnen fotografiert.

Das Buch «Meine Schwester» weist einzig auf dem Umschlag eine Fotografie auf. Fotos kommen immer wieder in sprachlich erzählter Form vor. Als die Haushälterin der Grosseltern eines Tages das Haus kurz verlässt öffnen die beiden Mädchen einen Schrank. Sie setzen sich davor «und schauen hinein in den grossen dunklen Raum, in die Erinnerungen der anderen. Der Schrank ist voll davon. Verstaut in Koffern und Kisten. Ich greife ein grünes Fotoalbum und schlage es auf Schwarz-weisse Bilder mit gezackten Rändern. Unsere Grosseltern und andere, unbekannte <Menschen mit weissen Sommerhüten sitzen an einer gedeckten Kaffeetafel und lächeln uns an, im Hintergrund das lang gestreckte Gebäude mit den vielen Giebeln und Balkonen, das Sanatorium unserer Grosseltern in Schlesien. Unsere Mutter, ein dünnes Mädchen von sechs Jahren, auf einer sonnenüberfluteten Wiese. Ihre vier Brüder dahinter, daneben ihre acht Jahre ältere Schwester. Unsere Mutter in weisem Kleid und mit eingedrehten Locken, ihre Schwester streng mit Wollrock und Pullover. Die Schöne und die Kluge, wie unser Grossvater, Api, immer sagt».

Bettina Flitner schildert mehrmals im Buch den Prozess des Fotografierens. So etwa in der Schilderung einer Porträtsitzung mit ihrer Schwester, die Bewerbungsaufnahmen benötigt: «Ich schaute durch den Sucher. Dieser Moment ist für mich beim Porträtieren der spannendste. Vorher kommuniziert man mit den zu porträtierenden Menschen, man lockert sie auf. Das Warming-up sozusagen, bei dem man bereits einiges sieht von den zu Porträtierenden, aber diese Wahrnehmung ist noch durch die ganze Umgebung und das eigene Handeln verwässert. Der Blick durch den Sucher aber fokussiert alles auf den Menschen, es ist wie der Blick durch ein Brennglas». Was die Fotografin im Laufe der Jahre fotografisch festgehalten hat, ist in ihren Bildbänden zu sehen. Die sehr persönliche Geschichte ihrer Beziehung zur Schwester und zu den Eltern erzählt sie im Buch «Meine Schwestern».

«Meine Schwester» von Bettina Flitner ist im Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Bis Mitte September findet im MAKK, Museum für angewandte Kunst in Köln die Ausstellung «40 Jahre laif – 40 Positionen dokumentarischer Fotografie» statt.

Eingeworfen am 19.5.2022

2 Kommentare

  1. Vielen Dank für den interessanten Artikel und den Hinweis auf die Ausstellung in Köln zu Bettina Flitner. Als Hobbyfotografin und Psychologin ein immer wieder kehrendes Thema…

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  2. Der Name Bettina Flitner ist mir mehrmals schon begegnet in letzter Zeit. Hier endlich eine gute Heranführung. Nun will ich das Buch lesen. Ich bin sehr gespannt. Schön, dass es solche Heranführungen gibt. Sie sind heute selten geworden.

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