1200 Corona-Signaletik Fotos

Eine Doppelseite aus dem besprochenen Buch

Autor: Michael Guggenheimer

Ein Buch mit 1200 Fotos von grafischen Lösungen in Zeiten der Pandemie. Kreise, Pfeile, Rechtecke auf Böden und an Wänden und Eingangstüren. Bilder von Plakaten mit Aufforderungen zum Warten und Abstand wahren.

Regula Ehrliholzer hat schon Signaletiklösungen für Museen und andere Institutionen entworfen. Sie hat Ausstellungen konzipiert, aufgebaut und kuratiert, Plakate und Flyers gestaltet, Logos entwickelt, Collagen hergestellt, Fotos in Büchern publiziert, Websites kreiert und Bücher gestaltet. Ein Buch, das sie gestaltet hat, wurde im Wettbewerb «Schönste Schweizer Bücher» prämiert. Früher trug die Zürcher Geografin und Gestalterin eine schwere Kamera mit sich, wenn sie auf der Suche nach Bildern für eines ihrer Projekte war. Irgendwann blieb die Kamera in ihrem Atelier, weil die Optik des Smartphones durchaus mit derjenigen ihrer Kamera konkurrieren konnte. Jetzt liegt ihr Buch «Means to an End – Wildwuchs der Zeichen» mit 1200 Fotografien auf, alle mit dem Smartphone aufgenommen. Zu sehen sind Kürzestsatztexte wie «Max  2 Personen», «Bitte hier anstehen», «Abstand», «Nicht mehr als 5!». Aber auch Pfeile in allen Farben und Variationen, gemalte und geklebte, dicke und dünne, Absperrbänder in verschiedenen Farben, grafische Lösungen von Laien und Profis. Plötzlich waren in der Pandemie alle Grafiker. Und weil keine Vorbilder da waren, war alles möglich. Ehrliholzers Bilderkammer wird eine witzige Erinnerung an jene Zeit sein, da wir uns daran gewöhnt haben, Masken zu tragen, in der Schlange vor der Bäckerei zu stehen, Impfausweise oder Covid-Zertifikate bei jedem Restaurantbesuch zu zeigen und neue Zeichen zu unseren Füssen, an Eingängen zu beachten.

Gleich mehrere ihrer Tätigkeiten konnte Regula Ehrliholzer im grossformatigen Buch ausüben: Sie hat fast alle Bilder fotografiert. Ein Teil der Bilder hat der typografische Gestalter René Wäger beigesteuert, einige Bilder haben Freunde ihr geschickt, die von ihrem Bildprojekt wussten. Sie hat die Bilder zu Gruppen arrangiert, das Buch gestaltet und einen Text zum Vorgehen geschrieben. André Vladimir Heiz und René Wäger haben weitere Texte beigesteuert. Die Bildkapitel tragen Titel wie Pfeile, Linien, Punkte, Kreuze, Boxen, Fussabdrücke. Und der Buchtitel? Die deutsche Version «Wildwuchs der Zeichen» schien unübersetzbar zu sein. Und der Verlag wollte das Buch auch mit englischen Texten bestücken, denn das Interesse für das Buch im Ausland war seit der Ankündigung gross. Irgendwann kam man auf die englische Variante, die übersetzt «Mittel zum Zweck» bedeutet. Die neuen Zeichen als Mittel zum Zweck einer Ordnung.

Signaletik ist das Thema des Bildbandes. Volks-Signaletik, die von der Corona-Pandemie ausgelöst wurde. Ob in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich oder anderswo: Kaum hatte sich Corona zur richtigen Pandemie mit Beschränkungen, neuen Verhaltnsmassregeln, Lockdowns und anderen Vorsichtsmassnahmen entwickelt, mussten überall Abstandzeichen geschaffen werden, mussten Ein- und Ausgänge von Ladenlokalen, Museen, Konzerthallen, Theatern, Schulen, Bahnhöfen, Krankenhäusern neu geplant, die Zu- und Ausgänge neu gelegt werden. Und weil es keine von langer Hand entwickelte Gestaltungsrichtlinien gab, konnte und musste jetzt jede und jeder möglichst schnell und nach eigenem Gusto und nach eigener Gestaltungsphilosophie Pfeile, Trennlinien, Abstandsplakate, Hinweise aller Art gestalten, sie am Boden, an die Wand, an den Eingangstüren kleben. Mal von Hand geschrieben und gezeichnet, mal von Vorlagen kopiert, mal von Grafikerinnen entworfen: In den ersten Monaten der Pandemie von Mitte März 2020 an begann das Zeitalter der neuen Signaletik. Pfeile in unglaublich vielen Variationen, häufig mit farbigen Klebestreifen am Boden festgemacht, es folgten Fuss- und Schuhabbildungen, Verbotszeichen aller Art, manche von den Strassenverkehrstafeln abgeschaut. Mit der Pandemie vervielfachte sich das Vokabular der Hinweise und gerieten die Formulierungen kurz. Sie lauten lapidar: Ausgang, Eingang, Kein Durchgang, Exit, Stop, Abstand, Desinfektion, Maximal 3 Personen, nur einzeln eintreten, Desinfektion .

Einer, der Bilder zum Buch beigetragen hat

Plötzlich wurden so viele Menschen wie nie zuvor Freizeitgrafikerinnen und -grafiker. Sie experimentierten mit Farben, wurden zu Klebekünstlern. Von März 2020 bis September 2021 fotografierte Regula Ehrliholzer die Zeichen der neuen Volkssignaletik. Im Gespräch mit Freundinnen und Freunden entstand die Idee, die Bilder für spätere Nachcorona-Zeiten in Buchform aufzubewahren. Kurz nachdem Regula Ehrliholzer mit dem Fotografieren dieser neuen Zeichen begonnen hatte, stellte sich heraus, dass ihr Berufskollege René Wäger das Gleiche tat, wenn auch vielleicht nicht so obsessiv wie sie. Als sich der Drucktermin verzögerte, kam die Befürchtung auf, das Buch könnte zu spät in den Verkauf gelangen und erst nach dem Ende der Pandemie herauskommen. Doch dann kam die dritte Welle und später die vierte, die Inzidenzzahlen stiegen nochmals und das Buch verlor seine Aktualität nicht. Museen, Galerien, Buchhandlungen, Ausbildungsstätten, Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen wollten das Buch haben. Der Grossteil der Auflage ging ins Ausland: Behörden, Bibliotheken, Designmuseen, Fotomuseen, Buchhandlungen und spezialisierte Magazinläden wollten das Buch haben. Als das Buch herauskam, fotografierte Regula Ehrliholzer eine ganze Anzahl von Gestaltern:innen, die die Pfeile und Kreise erstellt hatten sowie einige der wenigen Bilderlieferanten. So auch den Mann im kleinen Bild, der eine Buchseite zeigt, deren Bilder er in Biel aufgenommen hat.

Ehrliholzers Buch «Means to an End – Wildwuchs der Zeichen» ist nicht die einzige Publikation, die mit der Pandemie – und als Reaktion auf Covid 19 – entstanden ist. Der Langenthaler Hubert Bienek hat ein Buch mit dem Titel „Das pandemische Glossar“ bei der edition clandestin in Biel aufgelegt, in dem es um die Sprache der Pandemie geht. Der Solothurner Künstler Pavel Schmidt hat in seinem Buch «Duchamp defekt» eine grosse Anzahl von Urinoirs fotografiert, die während der Pandemie stillgelegt wurden, um so die Nähe pinkelnder, sich möglicherweise beim Urinieren nicht zu eng werden zu lassen. Und Fotograf Daniele Lupini aus Baden hat in seinem Buch «Plötzlich diese Leere» ein Buch herausgegeben, in dem die leeren Strassen und Plätze der Schweiz während des Lockdowns zu sehen sind.

«Means to an End -Wildwuchs der Zeichen», erschienen bei everyedition, Zürich. Texte in deutscher und englischer Sprache, 37 SFr.  Erhältlich in guten Buchhandlungen.

Eingeworfen am 21.1.2024

1 Kommentar

  1. Eine sehr schöne Würdigung der Arbeit von Regula Ehrliholzer und zudem eine Einordnung in andere Publikationen zur Pandemie.

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