Sonntagvormittag im Herbst. Die zumeist älteren Besucherinnen und Besucher des Gottesdienstes der St.Martinskirche am ehemaligen Benediktinerkloster Muri staunten nicht wenig, als während des Glockengeläutes nicht der Priester, sondern eine ihnen unbekannte Frau – in ihrem feierlich leuchtend glänzendem, vornehm wirkenden roten Gewand – auf den Altar zuschritt. Sie ging langsamen Schrittes nach vorne, begleitet von sechs Frauen, die zu ihrer rechten und linken schweigend mitschritten. Das ärmellose, liturgische rote Gewand, dessen festliche Note noch durch goldene Stoffstreifen an den Borten zu beiden Seiten des Mantels betont wurde, umhüllte den ganzen Körper der Frau und wirkte moderner und frischer als die Obergewänder der Priester anlässlich der heiligen Messe an allen Sonntagen zuvor.
Der Mantel, eindeutig aus vornehmen Seidenstoff, strahlte eine Wärme aus. Kleine aufgenähte Symbole und Figuren glitzerten bei jeder Bewegung im Scheinwerferlicht der oktogonalen barocken Kirche. Gedichte, Liedtexte und weitere Texte waren da als Stickereien zu sehen.
Noch bevor die noch nie zuvor in der Martinskirche gesehene Würdenträgerin und ihre Begleiterinnen den Altar erreichten, ertönte wuchtig die Orgel zur Begrüssung dieser Priesterin, die nun offenbar gegen jede Regel der katholischen Kirche den Gottesdienst leiten sollte. Die Begleiterinnen oder Beschützerinnen der Frau im roten Mantel stellten sich zu ihren beiden Seiten. Gespannte Stille herrschte in der Kirche, worauf die Frau im roten Ornat zum grossen Erstaunen der Kirchgänger eine flammende Rede hielt, in der sie gegen die jahrhundertealte Benachteiligung der Frau in der Kirche protestierte. Da fand an diesem Sonntag kein Gottesdienst wie sonst statt. Unklar blieb, wo der Pfarrer weilte, der den Gottesdienst hätte leiten sollen. Zehn Minuten dauerte ihre Rede. Erst später stellte sich heraus, dass an diesem Sonntag nicht nur in Muri, sondern auch in den barocken Kirchen von Einsiedeln und Engelberg, in Luzern, Sarnen, St. Gallen, Arlesheim und anderen Ortschaften Frauen mit Aktionen auf die Unterdrückung der Frau in der katholischen Kirche protesteierten. Und alle die Rednerinnen hatten sich in rote Mäntel eingehüllt, die verziert waren mit Zitaten, Gedanken, Sätzen, die die längst fällige Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche einforderten. Ebenso würdevoll wie sie gekommen war, verliess die rot bekleidete Frau mit ihren Begleiterinnen die Klosterkirche St. Martin in Muri. Den roten Mantel liessen sie in einem der Korridore des ehemaligen Klosters hängen, wo ich ihn fotografieren konnte.
Mehr zum roten Kleid und zum Text:
Sechzig Künstlerinnen und Künstler haben sich an zwei Ausstellungen in den Räumen des früheren Benediktinerklosters von Muri zum Thema «Venus von Muri» beteiligt. Vom Format und von der farbigen Ausstrahlung sticht eine textile Arbeit mit dem Titel «Ein Mantel für die Göttin» heraus, an der sechs Künstlerinnen gemeinsam gearbeitet haben. Dem Kollektiv «Sticken für Venus» gehörten Irene Brühwiler, Christine Läubli, Barbara Wälchli Keller, Marianna Gostner, Rita Steiner und Johanna Albrecht an.
Der Ausgangspunkt der Arbeit war das Gemälde «Die Geburt der Venus» von Sandro Botticelli aus dem Jahre 1486. Es stellt die Ankunft der römischen Göttin Venus an der Küste von Paphos dar. Hora, die Jahreszeitengöttin des Frühlings, reicht ihr ein prächtiges, rotes Gewand, in das ornamentale Gänseblümchen eingestickt sind – Symbol von Reinheit, Bescheidenheit und – im christlichen Kontext – der Tränen Marias.
Eingeworfen am 26.8.2024
Die Geschichte der Priesterinnen im roten Mantel ist ein schönes Bild, wie die katholische Kirche sich erneuern könnte.
Und ebenso erzählt sie über einen Göttinnen-Kult, der lange vor der Gründung der christlichen Kirche selbstverständlich war!