Ein Bildband mit Fotos eines bekannten Fotografen wartet in einem Hausdurchgang darauf, mitgenommen zu werden. Wer sind diese Männer und Frauen im Buch, die vor Jahren die Politbühne verlassen haben? Kennt man sie noch?
Alte Pfannen oder Teller. Ausranggierte Kinderspielsachen. Manchmal ein Nachttisch oder sogar ein Sofa. Sie stehen neben der Hauswand am Trottoir oder am Strassenrand und warten darauf abgeholt zu werden. «Gratis» steht manchmal auf einer Kartontafel. Oder auch «Zum mitnehmen». Oder auch nichts. Dieses Mal waren es sieben Bücher. In einem Hauszugang an eine Wand gelehnt. Kein Hinweis dafür, dass man die Bücher mitnehmen dürfe oder soll. Sie standen einfach da.
Eines dieser Bücher, ein Buch über die Schweiz, fiel mir als erstes auf: die Jubiläumsgabe der Migros an ihre Genossenschafter*innen, pubiziert vor 50 Jahren. Ich besitze das Buch auch. Tausende besitzen das Buch immer noch. Irgendwo in einem Büchergestell im Keller steht es auch bei mir. Ein Zeitdokument, das ich bis jetzt noch nicht entsorgen wollte.
Und neben dem Buch über die Schweiz noch das Buch «Bundeshaus Fotografien». Der Titel lockte. Das Buch kannte ich nicht. Michael von Graffenried der Fotograf. Er gehört zu den bekanntesten Schweizer Fotografen, die gesellschaftlichen Themen fotografisch nachgehen. Und das schon seit langem und nicht nur in der Schweiz. Ich kann mich an seine Bilder aus dem Algerienkrieg erinnern. Dann war da noch eine Publikation über ein drogensüchtiges Paar, an das ich mich erinnern kann. Ein Blick ins Netz zeigt, wie viele Fotobände von Graffenried schon publiziert hat. Von Graffenried zeigt das Leben von Menschen ungeschönt. Das verleiht vielen seiner Bilder Kraft. Erst vor einem Jahr erregte eine Fotoausstellung mit dem Titel «Our Town» die Einwohner einer amerikanischen Kleinstadt. Sie fanden, von Graffenried sei ihnen und ihrer Stadt mit seinen Aufnahmen nicht gerecht geworden.
Ich sammle Bücher über Fotografen und Fotografinnen, über Fotografie und ihre Geschichte sowie Romane und Erzählungen, in denen Fotografierende vorkommen. Ich stand da und es war klar: Das Fotobuch über das Bundeshaus kommt mit.
Jetzt blättere ich das Buch durch, das vor genau vierzig Jahren erschienen ist. Bilder vom Bundeshaus In Bern, dem Sitz des Schweizer Parlaments. Das Umschlagbild zeigt diesen bürgerlichen Palast. Zwei Männer gehen auf das grosse Gebäude zu, einer mit einer Aktenmappe. Ich nehme an, dass der Mann ein Parlamentarier ist. Und im Buchinnern, im Innern des Bundeshauses? Da sitzen Parlamentarier in engen Telefonkabinen und telefonieren. Ob es diese engen Kabinen mit ihrer stickigen Luft im Bundeshaus noch gibt, wo hier jede und jeder heute ein Mobiltelefon besitzt? Ich schaue mir die schwarz-weissen Bilder an: Männer ohne Ende, Parlamentarier und kaum eine Frau. Krawattenträger. Anzugsträger. Und auf einmal doch eine erste Frau, weisses Kopfhaar, das in der Masse der dunklen Anzüge auffällt. Ich kannte sie. Es ist Doris Morf, sozialdemokratische Nationalrätin aus Zürich, vor Jahren schon verstorben. Und sonst? Menschen, die kaum einer noch kennt, Namen, die nach vier Jahrzehnten nicht mehr präsent sind. Da ist aber dann doch noch ein Gesicht, das ich kenne. Wer ist der Mann bloss? Ich weiss, ich habe das Gesicht schon gesehen. Das war doch ein Aussenminister. Da die Legende hinten im Buch: »Vernissage. Bundesrat Pierre Aubert mit Salami». Ja, so lautet die Legende.
Und dann doch. Da taucht ein bekannter Politiker auf. Bundesrat Kurt Furgler beim Kaffeetrinken. Und wer ist der Herr, der in einem Nebenraum auf dem Teppich kniet und betet? Er hat die Schuhe ausgezogen. Ein Parlamentarier? Gab es vor vierzig Jahren bereits muslimische Nationalräte? Eher nicht. «Schweizer Journalist beim islamischen Gebet im Zimmer des Ständeratspräsidenten» lautet die Legende hinten im Buch. Und auf der Rückseite wird klar, wer der Betende ist: Ahmed Huber, Bundeshausjournalist seit 1956, der zum Islam konvertiert ist. Er hat Texte zum Bilderbuch geschrieben. Das Bundeshaus nicht nur von Parlamentsmitgliedern bevölkert: Auf der breiten Treppe ist eine Frau zu sehen, die den Treppenteppich mit einem Staubsauger reinigt. Und dann ist noch ein Angestellter zu sehen, der den Blumen im Ratssaal Wasser gibt. »Serviererin im Parlaments Café» lautet die knappe Bildlegende. Und zu sehen ist auch noch ein Angestellter, der die Parlamentspost sortiert. Auf zwei Bildern zu sehen «Bundeshausweibeln». Wie erklärt man einem Ausländer die Herkunft dieses Ausdrucks für die seltsam kostümierten Männer? Erst dieser Tage las ich, dass eine Bundesrätin auf die Dienste ihres bisherigen Weibels verzichte. Auf wen wartet wohl die Dirne auf dem dunklen Platz vor dem Bundeshaus? Dass es Demonstrationen vor dem Bundeshaus schon vor vierzig Jahren gab, ist den Bildern zu entnehmen, die das Geschehen rund ums Parlament zeigen. Die Polizisten vor dem Bundeshaus scheinen mehr den Verkehr vor dem Gebäude zu lenken als Regierung und Parlament vor Eindringlingen zu schützen.
Die Bilder anschauen und feststellen, dass sich vieles verändert hat. Ein Bild vom Presseraum: Journalisten schauen sich auf einem aus heutiger Sicht sehr kleinen Bildschirm eine TV Übertragung einer Parlamentsdebatte an, vor ihnen die Schreibmaschinen aus einer Zeit, da es Laptops noch nicht gab. Und dann ein weiteres Gesicht, das mir von den Medien von früher noch vertraut ist: Liliane Uchtenhagen, Nationalrätin aus Zürich. Manches sieht heute noch so aus wie einst: Ein Bild vom Bundesratszimmer, auf dem ich bloss Kurt Furgler und Bundesrat Otto Stich erkenne. Wer sind wohl die anderen Herren hinter diesen schrecklich schwer wirkenden Schreibtischen? Den noch jungen Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz erkenne ich. Und was will mir das Bild besagen mit der Dirne an nebliger Nacht vor dem Bundeshaus?
Von Graffenrieds Bildband über das Bundeshaus gehört nicht zu den bemerkenswerten seiner Publikationen. Veröffentlicht wurde es im Berner Grafino-Verlag. Bin ich richtig mit meiner Annahme, dass Grafino etwas mit dem Familiennamen des Fotografen zu tun hat. Immerhin stammt der Fotograf aus einer bekannten Verlegerfamilie. Es ist eines der ersten Bücher des Fotografen. «Our Town», veröffentlicht im renommierten Verlag Steidl. würde mich interessieren. Oder auch Algerien. Der unheimliche Krieg. Mal abwarten. Vielleicht komme ich wieder an einer Hauswand vorbei, wo eines der beiden Bücher auf mich wartet. Oder vielleicht ist das Buch in deinem Besitz? Einfach eine Mail schicken oder anrufen, ich komme vorbei.
Eingeworfen am 11.6.2024
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