Wie er dasitzt und mich anschaut. Eine Wand mit Knöpfen und Leuchten zu seiner Rechten. Er stützt sich leicht auf seinen rechten Arm. Gut frisiert ist der Schnurrbartträger, der Kragen des hellen Hemds steht weit offen. Das Bild könnte an einem warmen Sommertag entstanden sein.
Dass der Raum, in dem er an der Arbeit ist, warm ist, hängt mit dem grossen Apparat zusammen, den er bedient. Günther Bechtold, so heisst der Mann, war der erste Fotoladenbesitzer in St.Gallen, der Farbfilme entwickelte und Bilder vor den Augen seiner Kunden ausdruckte. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie er an Knöpfen drehte, Grünwerte reduzierte, manchmal Ausschnitte bestimmte. Ein Bild nach dem anderen spuckte der Apparat aus. Sie alle waren warm, man musste sie zunächst ruhen und abkühlen lassen. Und immer wieder stand Günther Bechtold auf, sortierte die neuen Bilder zu kleinen Paketen, die er in Couverts einpackte. Die Filme schnitt er zu Streifen mit je sechs Negativen und schob sie in durchsichtige Negativtaschen ein.
Wann die Fotografie vom Bildermacher aufgenommen wurde? Lange vor dem Zeitalter der Smartphones. Ich schätze spätestens im Jahr 1980. Das sind bald 45 Jahre her. Beim Sichten von Filmstreifen und Fotografien aus sechs Jahrzehnten bin ich auf das Bild gestossen. Ich kann mich gut an ihn erinnern. In einer Zeit, da man Kameras noch im Fotoladen kaufte, habe ich bei ihm während etwa zwanzig Jahren mehrere Kameras gekauft. Und weil ich in meiner kleinen Dunkelkammer nur Schwarzweissbilder vergrössern konnte, brachte ich regelmässig meine Farbfilme an den Burggraben 27. Woran ich mich noch erinnern kann? Im hinteren Ladenbereich hat er mich mehrmals fotografiert. Ich gefiel mir besser auf Passbildern, die er machte als auf den Automatenbildern vom Bahnhof. Manchmal blieb ich im Laden neben ihm stehen und schaute mir die Bilder an, die andere Kunden gemacht hatten. Und dann ergaben sich Gespräche. Günther Bechtold kommentierte regelmässig die Reiseziele seiner Kunden. Es schien ihm, als würden alle dieselben Reisen unternehmen. Die Bilder, die er ausdruckte, schienen sich zu wiederholen. Immer wieder waren es der Eifelturm oder die Rialtobrücke, der Big Ben oder die Berliner Mauer. Beliebt auch die Bilder vom eigenen Auto neben einer Tafel eines Alpenpasses mit Höhenangabe. Noch waren Bali und Neuseeland nicht so leicht und preisgünstig erreichbar. Regelmässig nach den Sommerferien sah er dieselben Posen: Das Paar vor dem Eifelturm, sie oder er oder beide in der Gondel auf dem Canal Grande. Es sah so aus, als würden sich fast alle denselben Ferienorten wieder treffen, dieselben Bilder machen und sich an den immer selben Orten von anderen Touristen aufnehmen lassen. Geburtstagsbilder, Fotos von der Konfirmation oder Kommunion, die Grosseltern auf dem Balkon oder die Kinder am ersten Schultag gehörten ebenfalls zu den Bild-Wiederholungen, die aus der grossen maschine herauskamen. Das Zeitalter der Selfies, die nicht ausgedruckt werden, war noch weit weg, sehr weit.
Fand in St.Gallen wieder das traditionelle «Kinderfest» mit seinem Umzug der weiss gekleideten Schulkinder und den Spielen auf der Kinderfestwiese auf dem Rosenberg statt, dann war Bechtolds Laden voll von Kunden, die auf die Bilder von ihren Kindern oder Enkeln warteten. Und zwischendurch fanden sich in den Bilderhaufen auch gewagte Aufnahmen: Sie in Unterwäsche, er ohne Slip und Unterhemd. Günther Bechtold musste da die Bilder in die richtigen Aufnahmetaschen einstecken . Unbedingt. Ein einziges Mal gab es da eine Verwechslung mit dramatischen Folgen. Ein zweites Mal durfte es sie nicht mehr geben.
Irgendwann bin ich aus St. Gallen fortgezogen. Bei späteren kurzen Besuchen in der Stadt suchte ich manchmal Günther Bechtold und seine Frau Erika auf, die ihn im Laden assistierte. Meine teuerste Kamera samt drei Objektiven habe ich noch bei ihm gekauft, als ich längst nicht mehr in der Nähe wohnte. Kamera und Objektive besitze ich immer noch. Aber der Verschluss tut es nicht mehr präzis und der eingebaute Belichtungsmesser ist stumpf geworden.
Ich meine mich noch daran zu erinnern, dass die beiden in einem Dorf im Appenzellerland gewohnt haben. War’s Untereggen? Oder doch Rehetobel? Bechtolds waren aus dem Vorarlberg zugezogen. Ich höre noch Erikas alemannischen Dialekt. Irgendwann stand ich wieder vor dem Ladenlokal. Der Name Bechtold war verschwunden. Die Reklameleuchte mit der Raute von Agfa über der Ladentür war nicht mehr da. Der grosse Apparat, der die Bilder ausgespuckt hatte, war verschwunden. Auf der Site von photoCH finde ich Günther und Erika Bechtold mit ganz wenigen Daten. «St.Gallen SG 1964-1998» steht da. Und dann noch «Vermutlich Nachfolger von Robert Eisenhut (Burggraben 27).». Ich würde die beiden gerne wieder treffen und mit Günther Bechtold Bilder von einst nochmals anschauen. Ob es die beiden noch gibt?
Eingeworfen am 6.6.2024
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