Porträts überlebensgross

An der Trennmauer zwischen Palästina und Israel grosse Porträts von den Nachbarn

Autor: Michael Guggenheimer

JR, französischer Fotograf und Street Art Künstler, ist bekannt für seine überlebensgroßen Fotoplakate an Gebäuden.

Siebzig Jahre nachdem der aus der Schweiz stammende Fotograf Helmar Lerski in Palästina eine Serie von Porträts unter dem Titel «Araber und Juden» fotografiert, unternimmt der französische Fotograf, der unter dem Kürzel JR bekannt ist, ein ähnliches Experiment: Er zeigt arabischen und jüdischen Bewohnern Jerusalems Porträts von jüdischen Israeli und von arabischen Palästinensern und lässt die Zuschauer raten, wer von den Fotografierten nun jüdisch sei und wer arabischer Herkunft. Und so wie sieben Jahrzehnte zuvor die Betrachter es zumeist nicht fertigbringen, die Juden von den Moslems oder Christen zu unterscheiden, so passiert es mit den Bildern von Fotograf JR. JR will seinen richtigen Namen nicht preisgeben. Sucht man im Netz, landet man beim Namen Juste Ridicule. Mehr lässt sich nicht erkunden.

JR will als ehemaliger Graffiti-Künstler hinter seinen Initialen ein wenig anonym bleiben. Dabei versteckt sich JR, der 1983 geboren wurde, keineswegs. JR ist französischer Porträt- und Strassenfotograf. Eines Tages fand er eine alte analoge Kamera in einem Schacht der Metro. Man konnte die Bilder der Kamera nicht digital vermehren oder verändern, aber Fotoprints ausdrucken. Aus diesen Fotos wurden sogenannte Pastings, die er an die Hauswände zu kleben begann und noch mit Farbe wie mit einem Rahmen versah. Die analoge Kamera, die er in seinen Museumsausstellungen in einer Vitrine wie eine Reliquie zeigt gehört zu den Mythen seiner Geschichte.

Klein fing JR an und tritt heute grossspurig auf. Seine Fotos von Menschen, die er in Frankreich und Brasilien, in Kenia oder Israel und Palästina aufgenommen hat, lässt er riesig vergrössern und lässt sie an Hauswänden und an Mauern ankleben, zumeist (aber nicht immer) mit der Einwilligung der Behörden oder Hausbesitzer. JR hat seine monumentalen Bilder schon an Güterwaggons der Bahn oder an Übersee-Containern geklebt. Aus einer tunesisch-französischen Familie in Paris stammend, kennt JR die Welt der Nordafrikaner in Frankreich gut. Menschen, die zu den Benachteiligten der Gesellschaft gehören, interessieren den Fotografen besonders. Das können Bewohnerinnen und Bewohner der französischen Vorstädte sein, arbeitslose Jugendliche, Menschen, die unter ärmlichsten Bedingungen in den Favelas wohnen oder in Flüchtlingsunterkünften. Im Fokus stehen bei ihm oft Menschen, deren Würde und Rechte übergangen werden, Menschen am Rande der Gesellschaft. Inhaltlich verbindet er seine Kunstobjekte mit kulturellen oder zeitgeschichtlichen Themen, um auf unterschiedliche Missstände oder Vorurteile aufmerksam zu machen und Denkanstöße zu geben.

Passanten in einem Stadtquartier machen Grimassen und werden fotografiert

Die von JR von nahem Fotografierten sehen ihre Bilder im haushohen Format an einer Hausfassade geklebt. Anwohner der Trennmauer zwischen Israel und Palästina erzählen vor laufender Kamera, wieviel lieber ihnen die grossformatigen Gesichter an der Mauer seien als der graue Beton. In Abrissobjekten, deren Frontfassade nicht mehr steht, sieht man in frühere Zimmerwände, ähnlich wie in einem Puppenhaus, auf denen wie in einer Galerie Porträts auf Zeit zu sehen sind. Immer häufiger kann JR seine grossen Formate auch in grossen Museen zeigen. Eben erst etwa in der Kunsthalle München, wo der begleitende Katalog innerhalb weniger Tage vergriffen war und eine zweite Auflage geordert werden musste.

Trotz seinen Ausstellungen in grossen Museen ist die Strasse für JR ist „die größte Galerie der Welt“. Sidewalk Gallery nennt sich das Konzept von JR’s Bilderschauen: Man geht einer Strasse entlang und sieht die riesigen Porträts von Menschen, die er in der betreffenden Nachbarschaft aufgenommen hat. Manche der Porträtierten schneiden Grimassen, stellen sich besonders komisch hin, andere blicken ernst drein. Mit der französischen Filmerin Agnes Varda hat JR den Dokumentarfilm Visages Villages gedreht, in dem die beiden auf Reise durch französische Dörfer zu sehen sind und eine mobile Druckwerkstatt im Lieferwagen mitführen, mit der sie die gemachten Aufnahmen auch gleich drucken und ankleben konnten. Der Film erhielt 2018 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“.

Noch bis zum 15. Januar 2023 dauert die Ausstellung JR: Chronicles in der HYPO Kunsthalle München.

Eingeworfen am 21.1.2024

1 Kommentar

  1. auf dem weg zur u-bahn im münchner hauptbahnhof jr-bilder auf beiden seiten des gangs. toller effekt. als würde man beobachtet und beobachte selbst. klassisches who is watching whom. dabei steht eine internetadresse. insideoutproject.net. und der vermerk „a global art project by jr“.

    Antworten

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Das könnte Sie auch interessieren