Die Biografie einer anderen

Die beiden Ansichtskartengestelle mit Fotos von Mathilde ter Heijne

Autor: Michael Guggenheimer

Mathilde ter Heijne sammelt alte Fotografien von unbekannten Frauen. Mit ihnen stellt sie Ansichtskarten her. Und zu den Fotos fügt sie Biografien von Frauen bei, die sie als bemerkenswert taxiert. Mehrere Museen zeigen die Ansichtskarten. Und man darf sie mitnehmen, soll anderen unbedingt von diesen Biografien erzählen.

Kürzlich Besuch im Albertinum in Dresden. Beeindruckend. Von Caspar David Friedrich bis Gerhard Richter: Im Museum sind Meisterwerke versammelt aus dem Bestand der Galerie Neue Meister und der Skulpturensammlung ab 1800 aus Romantik, Impressionismus, Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Gegenwart. Hohe Räume, ein imposanter Lichthof. «Weltflucht und Moderne» hiess eine Sonderausstellung, die gerade stattfand. Schlendern durchs Museum. Ein glanzvoller Ort. Beim Betreten eines der vielen Säle dann eine Irritation: Zwei mobile drehbare Ansichtskartenständer stehen an der Seite. Sie tragen Fotografien in Postkartengrösse, alle Bilder in Schwarz-Weiss, alle zeigen Frauenporträts.

Kein Verkaufsstand ist zu sehen. Der übliche Hinweis auf den Kaufpreis pro Karte fehlt. Sind das Karten zum Anschauen? Oder doch Karten zum Kaufen? Gar Karten zum Mitnehmen? Ich drehe die Kartenhalter langsam, ich schaue die Frauen auf den Karrten an, Frauen mit europäischen Kleidern, Women of Color, Bilder, die vor langer Zeit aufgenommen wurden. Fotos aus alten Alben? Bei Hausräumungen gefundene Bilder? Dazwischen auch neuere Bilder, die könnten vor zwanzig Jahren aufgenommen worden sein. Ich beginne zu zählen: 80 verschiedene Fotografien sind hier zu sehen, von jedem Porträt zehn, fünfzehn Exemplare. Ich getraue mich nicht, Karten herauszunehmen, ich bin in einem Kunstmuseum. Es könnte sich um ein Kunstwerk handeln. Ich bin in einem Gebäude, in dem mehrfach darauf hingewiesen wird, dass die ausgestellten Objekte nicht berührt werden sollen. Ohnehin sind die Sicherheitsmassnahmen vor kurzem verstärkt worden, seitdem Umweltaktivisten ihre Proteste in die grossen Kunstsammlungen tragen.

Ich warte auf den langsam von Saal zu Saal schlendernden uniformierten Museumswärter, frage ihn, ob man sich hier bedienen dürfe. Und ob ich ein Bild, vielleicht sogar zwei, mitnehmen könnte. «Ja, tun Sie das, das dürfen Sie». Als er sich entfernt, wage ich es: Nicht eine, zehn Karten wähle ich aus und weiss immer noch nicht, was das soll, weshalb ich das darf. Erst jetzt stelle ich fest, dass auf der Rückseite jeder Karte ein Text gedruckt ist: Der Name einer Frau, ihre Geschichte, die Jahreszahlen. Eine zweite Irritation: Was hat der jeweilige Text auf der Rückseite mit der fotografierten Person zu tun? Beim Vergleich wird klar: Die abgebildete Frau ist nicht diejenige, von der im Text auf der Rückseite berichtet wird. Eine junge Museumsbesucherin, die jetzt neben mir steht, sieht die Karten in meiner Hand und fragt mich, ob sie Bilder nehmen dürfe. Ich imitiere den Ton des Museumswärters: «Ja, tun Sie das, das dürfen Sie».

Jetzt entdecke ich eine kleine Tafel an er Wand: WOMAN TO GO. So heisst diese Fotoinstallation der niederländischen Video-, Konzept- und Installationskünstlerin Mathilde ter Heijne. Coffee to Go kenne ich. Also doch: Man soll, darf eine Frau, eine Frauenfotografie mitnehmen. WOMAN TO GO entpuppt sich als ein interaktives Projekt mit Frauenportraits aus der ganzen Welt. Die Vorderseite zeigt das Fotoporträt einer unbekannten Frau aus den Anfängen der Fotografie bis ca. 1920, auf der Rückseite die Biografie einer anderen, unbekannt-bekannten Frau, deren Leben aussergewöhnlich oder ungewöhnlich war. Die Irritation weicht einer Frustration: Woran soll ich mich halten? Handelt es sich jeweils um eine echte Biografie? Oder wurden hier Biografien erfunden. Neugier kommt auf: Finde ich heraus, ob eine Biografie erfunden ist oder echt wahr? Ein visueller Eindruck und eine Lebensgeschichte treffen auf diesen Karten aufeinander.

Die Sammlung von Mathilde ter Heijne umfasst mehr als die 80 Bilder im Dresdner Albertinum. Es sind mehrere hundert Karten, die ein eindrucksvolles Bild von den Leben dieser unbekannten Frauen zeichnen und die Anregungen geben wollen, sich mit früheren und zeitgenössischen Rollenmustern auseinanderzusetzen. Die Bilder und Biographien wurden aus der ganzen Welt gesammelt.Und die Sammlung wächst weiter, wird immer wieder in Kunstmuseen ausgestellt. Die Liste der Häuser ist beeindruckend lang. Die Kartentexte sind in englischer und deutscher Sprache. Wie wäre es, diese Kartentexte in Arabisch und Farsi zu drucken, sie im Iran oder Saudi-Arabien zu zeigen? Natürlich mit Bildern, mit denen man sich dort auseinandersetzen könnte?

Die beiden im Text erwähnten Frauen

Mittlerweile hat die junge Frau neben mir mehrere Karten gewählt und wir entschliessen uns, uns gegenseitig je ein Porträt zu zeigen und den Text auf der Rückseite vorzulesen, ohne zu wissen, ob der vorgetragene Text wirklich zum Bild passt oder nicht. Ich gebe zu, es sind Texte und Bilder, die nachdenklich stimmen. «Solitude», so der Name der Frau auf meiner Karte (kleines Bild links), war das Kind einer Vergewaltigung. Ihre Mutter wurde von einem Seemann auf dem Schiff, das sie nach Guadeloupe brachte, missbraucht. Louise Hoffmann ist jene Frau, deren Geschichte ich jetzt höre. Sie arbeitete als Werkspilotin bei den Bücker-Werken. Nach jahrelangem Kampf hatte sie es geschafft als erste Frau Einfliegerin bei einem grossen deutschen Flugzeugwerk zu werden, aber während eines Fluges von Wien nach Berlin flog sie im Nebel in die Bäume und stützte ab. Ich greife eine weitere Karte und lese die Biografie einer Adelheid Salles-Wagner (1825 – 1890) aus Dresden, Enkelin des königlichen Hofbraumeisters Gottlob Friedrich Thormeyer, die in Frankreich als Porträtmalerin und Historienmalerin hohe Anerkennung gefunden hat. Das passt zum Albertinum. Und das Bild (rechtes kleines Bild) sieht so aus, als sei die junge Frau erst vor einigen Jahren erst fotografiert worden. So stehen wir da und picken uns einzelne Bilder aus dem Ständer heraus, lesen uns die Geschichten vor. Wir steigern uns, indem wir komplizierte, spannende Biografien suchen. Und wir sind uns einig: Die Geschichten regen an.

Künstlerin Mathilde ter Heijne interessiert sich in ihren Projekten eindeutig für Identitäts- und Geschlechterverhältnisse der heutigen und vergangenen Gesellschaften, die sich vom aktuellen patriarchalen System unterscheiden. Kunstkritiker Hans-Jürgen Hafner bemerkt zu der Arbeit Woman to go[1] (2005): «Die Arbeit besteht aus handelsüblichen Postkartenständern, die verschiedene Postkartenmotive zur freien Mitnahme enthalten. Die Karten zeigen jeweils die Reproduktion von S/W-Fotografien, Porträts anonymer Frauen, die zwischen 1800 und 1900 geboren sein dürften. Diese Fundstücke kombiniert Mathilde ter Heijne assoziativ mit den biografischen Daten von ihr recherchierter, historisch fassbarer Frauen aus derselben Zeit. In der Kombination von Bild und Text konstruiert die Künstlerin einerseits mögliche Biografien, weist aber auch darauf hin, inwieweit Identität immer auch Fiktion ist. ‚Verfügbarkeit’ ist dabei in mehrfacher Hinsicht Werkzeug wie Zielscheibe dieser Arbeit. Denn als Giveaways für die Ausstellungsbesucher nach Gutdünken auch jenseits der Sphäre Kunst verfügbar, sensibilisiert WOMAN TO GO geradezu für die Frage, wer auf welche Weise mit welcher Legimitation über Identität verfügt. Außerdem und ganz selbstverständlich setzt sich die Arbeit – darin medienreflexiv – mit dem Objektcharakter von Kunst, sowie der Rolle von Archivalien sowie den Techniken der Dokumentation und der Fiktion bei der Herstellung von Gedächtnis auseinander.“

Eingeworfen am 21.1.2024

2 Kommentare

  1. Das könnte ja abendfüllend sein: sich Postkartengeschichten vorzulesen und sie in ein Kaleidoskop zu bringen: ein grosser Roman über Jahrhunderte hinweg, etwas zwischen Krieg und Frieden.

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  2. Biografische Arbeit ist immer Fiktion. Keiner hat das besser auf den Punkt gebracht als Jón Gnarr der über seine Autobiografie «Hören Sie gut zu und wiederholen Sie. Wie ich einmal Bürgermeister wurde und die Welt veränderte» schreibt, dass diese in den Buchhandlungen besser bei Fiction eingereiht würde als bei den Biografien.
    Eine äusserts lesenswerte Fiction vom früheren Bürgermeister von Reykjavík.

    Und Danke Michael für diesen sehr interessanten Beitrag.

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