Gehen und Stehen schärfen das Sehen

Stadtwanderer schauen sich ein Plakat mit 130 Bikdern von Stadtwanderern an

Autor: Michael Guggenheimer

In Zürich übt eine Stadtspaziergängerin mit Gruppen das aufmerksame Sehen und Wahrnehmen der Umgebung. Wer da mitmacht, öffnet sich für andere Sichtweisen auf die Stadt. Und manchmal auch für ein anderes Fotografieren.

«lerjentours – Agentur für Gehkultur». So nennt Marie-Anne Lerjen ihr vor zehn Jahren in Zürich gegründetes Ein-Frauen-Unternehmen. «Ein Spaziergang ist der beste Weg, einem Ort auf die Spur zu kommen.», heisst es auf ihrer Webseite. Und weil sie durchaus einen Sinn für Sprachspielereien hat, heisst es dort weiter: «Möchten Sie auf dem Laufenden bleiben. Abonnieren Sie den lerjentours-Newsletter».

Laufen, Spazierengehen, Flanieren, Wandern, zu Fuss unterwegs sein: Das sind Vokabeln, die im Rahmen ihrer Arbeit zentrale Bedeutung haben. Mehrmals im Jahr lädt sie zu Spaziergängen und kleinen Wanderungen ein, bei denen es darauf ankommt, seine Sinne für die eigene Umgebung, für die Umwelt überhaupt zu öffnen und zu schärfen, mit allen Sinnen unterwegs zu sein. Und die Menschen kommen. So auch an einem Samstag im September als rund 30 Personen ihr am Stadtrand von Zürich während zwei Stunden folgen. Puristen würden sie dafür tadeln, dass ihre Spaziergänge auch durch Un-Orte, durch Hinterhöfe, Autobahnzubringern entlang oder durch Parkhäuser führen. Im herkömmlichen Sinn «schön» muss es auf Lerjens Spaziergängen nicht sein. Hauptsache man blickt sich um, ist mit wachen Sinnen unterwegs.

Die Instruktion zu Beginn des Spaziergangs an einem Gelände, das «Basislager» heisst und aus einer Ansammlung von mehrstöckig aufgestellten Containern besteht, in denen Künstlerateliers untergebracht sind, lautet: Man ist zu zweit unterwegs und unterhält sich über das Spazieren als Aktivität, über das Wandern, über das Gehen und Sehen, das unterwegs sein. Und bitte über nichts anderes! Sechs Minuten ist man zu zweit unterwegs. Bis Marie-Anne Lerjens Handywecker zu hören ist: Dann bleibt man zwei Minuten stehen, hält eine Ruhepause ein, spricht nicht miteinander, schaut und hört sich um, erkundet den Raum, die Sicht, die Geräusche und Gerüche des Ortes, um nach dem aufmerksam verbrachten Halt die Begleitung zu wechseln und sich mit einem neuen Gehpartner wieder über die genannten Gehthemen zu unterhalten.

Zehn Stationen zählt dieser Walk. Und schon bald wird in den Gesprächen klar: Anders als das Autofahren schärfen Gehen und Stehen das Sehen. Die Langsamkeit des Gehens macht’s möglich. Umso erstaunlicher, was die Kameralinse auf diesem Stadtspaziergang jeweils einfängt, wo doch die Haltepunkte nicht von der Spazierleiterin bestimmt werden, sondern von ihrem Wecker. Man bleibt auf einem von Nadelbäumen gesäumten Schotterweg stehen, schaut sich um und stellt fest, dass der erste visuelle Haupteindruck die lange stehende Autokolonne ist, der Stau auf dem Autobahnende nebenan und nicht etwa der Zürcher Hausberg oder das in der Ferne sichtbare höchste Gebäude der Stadt. Was soll man hier fotografieren? Das Auge wandert von den vielen Autos weg, die Kameralinse wird auf die Allee und auf die Menschengruppe gerichtet. Auf einmal realisiert man, dass man den Namen dieser Baumsorte nicht, aber die Automarken der zweispurig stillstehenden Fahrzeugkolonne kennt.Anders als die Autofahrer, die alle nach vorne blicken, können die Spazierenden sich umdrehen, können in alle Richtungen blicken, können knien und Details auf dem Boden aufnehmen. Einer schliesst die Augen und konzentriert sich auf das, was er hört und riecht. Automotoren und Baumdüfte.

Die Lerjentouristin schreitet weiter voran, sie bestimmt den Weg jedoch nicht die Haltepunkte. Diesmal ist’s das Treppenhaus einer grossen Parkgarage. Zwei Minuten schweigender Halt im Betonbau. Man schaut sich um und realisiert wie gross, grau, kalt, abweisend, nach Abgasen riechend und farbenlos hässlich Parkgaragen häufig sind. Der Ort, an dem man den Wagen hinstellt, um sich schnell anderswohin zu begeben, ist jetzt Wahrnehmungsort der Lerjentouristen: Spazieren und Anhalten öffnen aller Sinne. Der mitwandernde Fotograf, der die ganze Aktion begleitet, blickt etwas hilflos um sich, findet keinen attraktiven, keinen schönen Ort, kein Detail, das er aufnehmen möchte. Strukturen im Beton hält er fest, eine Art Mauerbilder. Man geht weiter, wechselt die Redepartnerin oder den Redepartner und staunt über die erzählten Geherfahrungen der anderen Mitspazierer. Da ist jene Frau unterwegs, die mit ihrem Partner die Schweiz von Müstair bis Genf, vom äussersten Osten zum westlichsten Punkt des Landes zu Fuss durchquert hat. Starke Erinnerungen sind geblieben. Und Fotoalben sind entstanden. Von jeder Wanderung wieder ein Album. Derzeit ist sie nach erfolgter Wanderung am Zusammenstellen des fünften.

Stadtwanderer machen Halt und schauen und hören sich um

Ich nehme teil an diesem Spaziergang der zehn Stationen und mir fällt der in Leipzig wohnhafte Fotograf und Spaziergangswissenschaftler Bertram Weisshaar ein. Auch er ist wie die Zürcher Spaziergängerin Lerjen ein Sinnenmensch. In einem Zeitungsinterview, das er vor Jahren gegeben hat, sprach er sich dafür aus, beim Spazieren mit der Kamera auch mal «andere» Bilder aufzunehmen: Gewissermassen als Experiment habe ich begonnen, mit der Kamera manchmal sein Konzept der ‚Gegenbilder‘ umzusetzen. Dazu Weisshaar: “Der Tourismus funktioniert so, er verkauft das Klischeebild und reproduziert es permanent. In Leipzig gibt es einen Parcours durch die Stadt, wo im Boden Fussstapfen markiert sind. In die soll man sich stellen und hat dann die ‘richtige‘ Foto-Perspektive auf die Sehenswürdigkeit“. Soll man dann nach links und rechts drehen? Besser sei, meinte Bertram Weisshaar im Interview: “Schau in die entgegengesetzte Richtung! Die Frage ist, wie kommen wir zu anderen Bildern? Die kriegen wir nicht, wenn wir den Fotos hinterherlaufen, die seit 50 Jahren im Reiseführer stehen“. Während die Autofahrer im Stau vor der Stadtgrenze von Zürich alle nach vorne schauen und darauf warten, endlich weiterfahren zu können, drehe ich mich um, schaue in die andere Richtung und staune, was für ein schönes Bild ich als Spaziergänger gemacht habe, der ich zu Fuss im menschlichen Mass unterwegs bin.

Am nächsten Tag wiederhole ich den Spaziergang, dessen Route Spaziergängerin Lerjen festgelegt hat. Kein Reiseführer, in dem diese Stadtrandgegend als Flanierort empfohlen wird. Ich gehe mit der Kamera los, erinnere mich an Baumallee, Autobahnende und Parkhaus und verirre mich noch vor dem sechsten Halt bei den Sportarealen, komme von der Lerjenstrecke ab und lande immerhin in der Siedlung Hardhof mit ihren Doppel-Einfamilienhäusern, in der ich noch nie zuvor gewesen bin. Bürgerlich gepflegte Häuser als Kontrast zum unweit gelegenen Querriegel der Grossüberbauung Grünau. Und ich staune über alle die Fotomotive, die ich in diesem unaufgeregten Teil der Stadt finde. «Das Abenteuer liegt um die Ecke: Kleines Handbuch der Alltagsüberlebenskunst» hat ein Buch von Alain Finkielkraut geheissen, in dem dafür plädiert wurde, die eigene Umgebung auszukundschaften. Und ich erinnere mich an den Zürcher Fotografen Björn Siegrist, der ein unspektakuläres Viertel in Zürich fotografiert und an einer Schaufensterausstellung mit den Bildern bewiesen hat, dass es wirklich um die Ecke schöne Fotomotive gibt. Und Thomas Zemp fällt mir ein: Er fotografiert jeden Tag Szenen aus der Stadt Zürich, die er auf Instagram postet. Zu seinen Lieblingsmotiven gehören kleine Sensationen des Alltags, Szenerien, die man häufig übersieht. Ich begebe mich nochmals zum Ausgangspunkt von Lerjens Stadterkundung und schaue mir an ihrer Ateliertür das grosse Plakat an, auf dem 128 Fotografien zu sehen sind: Foto als Erinnerungen an Stadtspaziergängen mit Mitspaziergängern in den letzten zehn Jahren. Raus mit der Kamera an den Stadtrand, dorthin, wo noch kein Reiseführer uns die Fotomotive vorgedacht hat!

(Grosses Bild: 128 Fotos von Spaziergängen an der Tür von Marie-Anne Lerjens Atelier. Kleines Bild: Ein Halt unterwegs. Sich in alle Richtungen umschauen, hinhören, wahrnehmen).

Eingeworfen am 5.9.2022

1 Kommentar

  1. Auch am Trasimeno macht dieser Zürcher Spaziergang wunderbar neugierig und stellt die Heimatfrage so melancholisch schön, dass sie fliegen lässt, übers Gebirg in die Zürcher Gassen hinein, in die Zugehörigkeit, die Ankunft.

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