Das ist die Geschichte eines analogen Dia-Farbfilms, der zweimal in Vergessenheit geraten ist und zweimal gerettet wurde. Es ist aber auch die Geschichte eines Bilderrätsels.
Angefangen hat die Geschichte mit einer unbekannten Person auf einer Wanderung oberhalb der Ortschaft Filisur im Kanton Graubünden. Wann diese Wanderung stattgefunden hat, ist nicht bekannt. Ebenfalls unbekannt ist, wer diese Person war. Aber klar ist: es gab sie wirklich. Die Wandrerin oder der Wanderer hatte nämlich einen Dia-Farbfilm der Marke Kodak unterwegs verloren. Vielleicht beim Laden eines neuen Films? Vielleicht bei einer Picknickrast beim Auspacken des Rucksacks? Wir wissen es nicht. War’s ein Tourist? War’s eine Profifotografin? Und wann wurde der Verlust bemerkt? Irgendwann später, Wochen oder Monate später, vielleicht sogar Jahre später. Wieviel später wissen wir nicht, hat ein anderer Wanderer im Jahr 2010 in einem Bach neben dem Wanderweg die zurückgespulte Filmpatrone gesehen, sie aus dem Wasser gezogen, sie an sich und mit nach Hause nach Zürich genommen.
Pascal Wallimann, der die Filmpatrone gefunden hatte, war damals Student an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Er stammt aus Malix, einem Dorf unweit von Chur. Seine Familie besitzt eine kleine Jagdhütte auf Sela, einem Weiler oberhalb von Filisur auf 1450 M. über Meer. Dort verbringt er in den wärmeren Monaten regelmässig einige Zeit. Auf seinem Weg bergauf in die Hütte hat er den Fund gemacht.
Wallimann hat den Film im Labor entwickelt und zu seiner Enttäuschung feststellen müssen, dass nichts wirklich konkret Erkennbares auf den Negativen zu sehen war: Flecken aller Art, keine Personen, keine Landschaften, keine Häuser, kein Hinweis auf den Fotografen oder auf die Fotografin. «Der Film war total verwittert, im Innern hatte Dreck und Wasser es sich bequem gemacht und von den erhofften Bildern war gar nichts mehr vorhanden», erzählt Illustrator und Musiker Wallimann. Irgendwann legte er den Film deshalb zur Seite. So geriet der Film zum zweiten Mal in Vergessenheit, die Filmpatrone hatte er nach dem Entwickeln entsorgt, sie gibt es nicht mehr.
Bis Wallimanns Ehefrau zehn Jahre später bei einer Aufräumaktion auf die Negativstreifen stiess und der Film zum zweiten Mal der Vergessenheit entrissen wurde. Weil damals, es war der Frühling 2020, gerade die Covid-Pandemie für Ruhe im Kulturbereich, für den Wallimann hauptsächlich Arbeiten ausführt, sorgte, nahm er den Film wieder zur Hand und begann mit ihm zu arbeiten. Zum Glück!
Wallimann hat das, was da noch an Emulsionsresten auf den Filmstreifen zu sehen war, eingescannt und war von dem Resultat total verblüfft und überrascht: «Was ich auf dem Bildschirm sah, glich einer rausgezoomten Ansicht unserer Erde. Landschaften, Eisflächen, Wüsten, Wasser», erinnert er sich. «Man kann beliebig viele Ausschnitte rausnehmen, immer sieht man wieder etwas Neues, Spannendes. Durch geringfügige Manipulationen, Ausprobieren und Rumspielen mit den Filmstreifen erhielt ich zusätzlich interessante Farbeffekte».
Siebzehn Ausschnitte hat er fokussiert und vergrössert. Die gewonnenen und vergrösserten Bilder weisen das grosszügige Mass von 1200mm auf 900mm, auf ihnen ist nichts konkret erkennbares ausser Farben, Farbschichten und abstrakte Formen. Auf grossen Papierbögen hat er die Bilder drucken lassen. Photoshop kam dabei nicht zur Anwendung. Die eigenwilligen Farben, die Risse, die Flecken, die Schichten, die Reste der Filmemulsion, wirken noch heute stark und verraten nicht, was auf den einzelnen Aufnahmen zu sehen war. Dazu Wallimann: «Man ertappt sich beim Betrachten, alles mögliche sehen zu wollen. Was war da wohl abgebildet? Könnte das ein Mensch gewesen sein? Oder ein Tier? Oftmals könnte man auch meinen, es seien Höhlenmalereien. Oder man lässt sich ganz einfach von den Formen und Farben in die Bilder hineinziehen und beobachtet, was die Natur mit der Fotoemulsion und der Maskierung angestellt hat». Gedruckt wurden die Bilder bei einer kleinen, renommierten Fine Art Printing Factory in Zürich. Das benutzte Fotopapier von Hahnemühle ist ein High End Fotopapier aus Baumwolle für eine hohe Bildtiefe. Zudem entstand eine Serie von Ansichtskarten mit den so geretteten Restbildern.
Im Ausstellungsraum der Galerie Wartsaal Wipkingen in Zürich hat Wallimann die so gewonnenen Bilder ausgestellt. Entstanden war ein schönes Gesamtkunstwerk für alle Sinne. Zu sehen waren die geretteten Farben und Formen des Films. Zu hören war ab Endlosschlaufe einer Tonaufnahme das Wasser just jenes Bergbachs, in dem die Filmpatrone wochen- monate- oder jahrelang gelegen war. Zu riechen war der Wald, der Fundort in den Bergen, weil Wallimann per Lieferwagen mehrere schwere Säcke Walderde mit Tannzapfen, Arvenzapfen, Baumrinden, kleinen Ästen, Moos und Flechten von jenem Ort hoch über Filisur in die Stadt mitgebracht und in einem selbst verfertigten sandkastenartigen Bereich in der Galerie installierte.
«Left behind. Naturvoyeurismus» lautete der Titel der Ausstellung. Die Besucherinnen und Besucher, die zur Ausstellung kamen, hatten im voraus keine Ahnung, was da zu sehen sein könnte. Und fast alle waren sie begeistert. Die Geschichte der Bilder, des zweifachen Filmverlusts und des Filmfunds war in einem Text an der Wand zu lesen. Elf der siebzehn Bilder fanden Platz an den Wänden des Ausstellungsraums. In einer Plexiglasbox auf einer Stele waren die originalen Negativstreifen ausgestellt. Laut war das Wasser des Bachs zu hören, vielfältig waren die Farben der grossformatigen Vergrösserungen, von denen mehrere von den Besuchern erworben wurden.
Wer den Film seinerzeit verloren hatte, ist immer noch ein Rätsel. Gemeldet hat sich niemand. Aber einen schönen Ort haben die siebzehn Bilder gefunden: Im Hotel Davoserhof, in Davos, bloss 7 Kilometer Luftlinie vom Fundort des Films entfernt, hängen sie in den Doppelzimmern. Noch fehlt in den Zimmern ein Infoblatt mit der Geschichte der Bilder. Aber das kann ja noch kommen. Und wer weiss: eines Tages meldet sich bei der Rezeption ein Gast und erzählt, dass er im Jahr 2010 auf einer Wanderung oberhalb von Filisur beim Laden eines neuen Dia-Farbfilms einen belichteten Film verloren hätte.
Eine Auswahl der Bilder auf https://www.pascalwallimann.ch/767827/aktuell
Eingeworfen am 8.6.2022
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