«Alltägliches im Augenblick» lautet der Titel einer Fotoausstellung im Museum Ackerhus in Ebnat-Kappel im Toggenburg. Gezeigt werden Bilder des Fotografen Bruno Kirchgraber aus den 1960er-Jahren.
Ich weiss nicht, wie lange es an den grossen Schweizer Bahnhöfen Gepäckträger gegeben hat. Die richtige Berufsbezeichnung lautete damals in der Schweiz Porteur. Ihre Mützen glichen Offiziers- oder Schaffnerhüten, nur die Farbenkombination war anders, nicht bahnblau, nicht militärgrün. Ich erinnere mich an braune Mützen mit rotem Band und mit dem Schriftzug Porteur. Reisten meine Eltern etwa in der 60er Jahren für die Dauer von zwei oder drei Ferienwochen mit der Bahn weg, meldeten sie sich rechtzeitig telefonisch am Bahnhof an, damit der Porteur sie vom Taxistand bis zum Bahnwaggon begleitete. Eine leise Unsicherheit gehörte jeweils dazu, wenn der Porteur viel schneller war als meine Eltern, die dann befürchteten, ein Gepäckstück könne auf dem Weg zum Waggon abhandenkommen. Zum Service gehörte auch, dass das Gepäck bei den reservierten Sitzen richtig verstaut wurde. Und zum Ritual gehörte auch noch nebst der Tragegebühr ein gutes Trinkgeld. Und natürlich wurde der Porteur darum gebeten, bei der Rückkehr das Gepäck vom Waggon zum Taxistand zu bringen.
Ich hatte die Berufsbezeichnung Porteur eigentlich schon längst vergessen. Und ich nehme an, dass es diesen einstigen Beruf an den Bahnhöfen deshalb nicht mehr gibt, weil irgendeines Tages die Gepäckwägelchen – und später die Rollkoffer – den Gepäckträgern das Geschäft abgenommen haben. Spontan eingefallen sind mir die schweizerische und die deutsche Berufsbezeichnung beim Betrachten einer Fotografie von Bruno Kirchgraber. Strammen Schrittes schiebt der Porteur in einem Bahnhof den Gepäckkarren vor sich hin. Zwischen den Lippen eine Brissago, eine dünne Zigarre. Wann habe ich zum letzten Mal eine Brissago gesehen? Heute würde der Mann auf dem Bahnsteig angehalten und zurechtgewiesen werden: Rauchen ist in den Bahnhöfen schon lange nicht mehr erlaubt.
Fotograf Bruno Kirchgraber, der dieses Bild aufgenommen hat, wurde 1930 in Gais im Kanton Appenzell Ausserrhoden geboren. Damals war Gais noch dörflicher als heute. Ich nehme an, dass der Junge in den Herbstferien den Bauern vom Ort im damals von Landwirtschaft geprägten Dorf bei der Ernte auf dem Feld helfen musste. Und ich nehme an, dass er die landwirtschaftliche Seite der Schweiz aus eigener Erfahrung kannte. Nach der Schule verbrachte er einen Welschlandaufenthalt als Bäckereiausläufer in Chêne-Bourg bei Genf. Seinen Brotberuf als Kartograph, als Landkartenzeichner, erlernte er in der Stadt Zürich. Ich weiss nicht, wann Bruno Kirchgraber Fotograf wurde, wann er zum ersten Mal eine Kamera in Händen hatte und wie er zu dieser Kamera gekommen ist. Einer seiner Brüder, der Germanist und Kunsthistoriker Jost Kirchgraber, weiss aber mit Bestimmtheit zu sagen, dass Fotograf Kirchgraber mit einer Leica unterwegs war. Vielleicht nicht von Anbeginn an. «Schon im Lehrlingsheim begann er zu fotografieren», heisst es auf der Einladungskarte zur Fotoausstellung im Museum Ackerhus in Ebnat-Kappel im Toggenburg. Den Beruf des Kartographen hat Kirchgraber nie aufgegeben. Fotohistoriker Markus Schürpf von der Datenbank foto.ch weiss zu Bruno Kirchgraber folgfendes zu berichten: «1956 begann er als Autodidakt zu fotografieren und arbeitete seit 1960 als selbständiger Kartograf und Fotograf. Die Schwerpunkte seiner Arbeit sind Land und Leute der Schweiz. Er publizierte u.a. in in der «Revue Schweiz», der «Radio-Zeitung», dem «Schweizer Spiegel», der «Eltern-Zeitschrift» sowie dem «Du». Mehrere Bildbände mit Fotografien von Bruno Kirchgraber sind mit den Jahren erschienen, der letzte trägt den schönen Titel «Vom Leben träumen» und ist im Jahr 2005 erschienen. Genau zwanzig Jahre nach der letzten Ausstellung in Stallikon findet im Sommer 2022 wieder eine Ausstellung mit Kirchgrabers Fotografien statt.
Ich weiss nicht weshalb mir beim Anschauen von Kirchgrabers Fotografien spontan die beiden Schriftsteller Peter Bichsel und Franz Hohler einfallen. Von Hohler gibt es eine wunderbare Kurzgeschichte, in der der Papst einen kleinen Traktor – Schweizer auf dem Land würden nicht Traktor sagen, sondern «Rapid» – irgendwo in den Schweizer Alpen lenkt und einem Bergbauern bei der Arbeit am steilen Berghang hilft. Und Bichsel hat in seinen Texten immer wieder Szenen in Schweizer Kleinstädten beschrieben. Beides, Land und Stadt, begegnen einem auf Kirchgrabers Bildern. Die beiden Autoren und der Fotograf haben die Schweiz zur selben Zeit erlebt und auf ihre je eigene Weise beschrieben. Beim Betrachten von Kirchgrabers Fotos sind ländliche Szenen zu sehen, die man heute kaum mehr antrifft. Eine Reihe von Schulkindern beim Säubern eines Ackers. Sie bücken sich und sammeln Steine ein, tragen sie zur Sammelstelle. Noch ziehen Pferde schwere landwirtschaftliche Geräte übers Feld. Das Landleben sieht in Kirchgrabers Bilderwelt anstrengend aus. Den Pfadschlitten im Schnee zieht ein Ross, der schwarze Sargwagen wird von zwei Pferden gezogen, hinter dem Wagen gehen die Dorfbewohner in einer langen Prozession zu Fuss zum Friedhof, die Landschaft ist weiss, es ist ein kalter Tag. Maschinen sind auf den Bildern vom Land nicht zu sehen, die Arbeit auf dem Feld ist hart und sie erfolgt von Hand.
Bruno Kirchgrabers Welt von damals zeigt die Schweiz zu jener Zeit als das Land Arbeitskräfte rief und – Max Frisch hat das treffend formuliert – Menschen aus dem Ausland kamen. Italienische Arbeiter an Weihnachten mit ihren schweren Koffern im Bahnhof beim Warten auf den einfahrenden Zug auf dem Weg zu ihren Familien in Lecce in Süditalien, Italienische Männer beim Erkunden ihrer neuen Umgebung in Luzern am Seeufer, ein Gastarbeiter, der im Wartsaal eingeschlafen ist oder jenes wunderbare Bild aus dem Wartsaal im Bahnhof Wädenswil: Ein Mann ist am Tisch eingeschlafen, sein Kopf ruht schwer auf der Tischplatte, hinter ihm die grossen Papierfahrpläne der SBB aus der Zeit, da es noch keine Mobiltelefone mit ihren digitalen Fahrplänen gab. Und hoch an der Wand hinter dem schlafenden Mann das grosse kirchliche Plakat in italienischer Sprache mit der Aufschrift «Gesu ritorna. Sei pronto?».
Wer die Zeit der 60er Jahre in der Schweiz nicht erlebt hat oder wer sich mit ihr auseinandersetzen möchte, dem bieten die Fotografien von Bruno Kirchgraber neben der Lektüre von Geschichtsbüchern oder von Romanen aus jener Zeit eine wunderbare Schatztruhe. Noch ist die Schweiz nicht so wohlhabend wie heute, noch muss der Rollstuhlfahrer unterwegs mit der Bahn im zügigen und unbeheizten Gepäckwagen mitreisen.
Kirchgrabers Bilder sind nie gestellt. Er ist ein präziser Beobachter, der offenbar stets die Kamera fotobereit bei sich hatte und schnell fotografieren konnte, was man auf jenen Bildern sehen kann, in denen Bewegung zu sehen ist. Und ein feinfühlig witziger Fotograf ist er. Zu sehen etwa auf jenem Bild, in dem ein verliebtes junges Paar am Seeufer steht. Ihre Hand um seinen Hals, seine Hand um ihre Hüfte, ihr rechter Fuss bei seinem Schienbein eingehakt. So sieht Zuneigung aus. Der Fotograf mit dem feinen Humor mit jenem Bild, auf dem eine Nonna irgendwo im Maggiatal einem Enkelkind den Po wischt und das Kind den Fotografen anschaut, nicht verschämt, sondern wohl eher neugierig. Oder jenes Bild, auf dem zwei Jungens inmitten eines Haufens Kartoffeln zu sehen sind und einer der beiden zwei Kartoffeln unter seinem Pulli auf Brusthöhe stopft. Kinderspiele. Witzig auch eine Fotografie von der Fassade des vor Jahrzehnten eingegangenen Kino Cinébref in Zürich: Auf der Strasse in einem von Pferden gezogenen Wagen Mädchen vom Lande in Kostümen – es muss gerade Sechseläuten sein – während die für die damalige Zeit lasziv leicht bekleidete Frau auf der fassadengrossen Reklametafel für den Film «Mädchen, die nach Liebe schreien» wirbt.
Die Bilder in der Ausstellung «Alltägliches im Augenblick» im Ackerhus Ebnat-Kappel haben Fotograf Bruno und sein Bruder Jost nach den folgenden Themen geordnet. Italiener, Kommunikation, Kinder, Bauern, Militär, Klosterschule, Kommunikation und Portäts. Die Ausstellung dauert bis zum 10. Juli 2022. Ackerhusweg 20, 9642 Ebnat-Kappel. www.Ackerhus.ch. Geöffnet jeweils am Samstag und Sonntag von 13-17 Uhr oder nach telefonischer Vereinbarung.
Eingeworfen am 2.6.2022
wenn ich mich recht erinnere, stand auf der mütze eines gepäckbewegers auf dem konstanzer bahnhof: Dienstmann. es gab damals auch noch die sperre, an der ein mann mit dienstmütze die bahnsteigkarte lochte, die man zuvor gekauft hatte…
ein schöner text über die zeit, als die bildbewahrung noch etwas besonderes war, weil nicht jeder dauernd herumknipste, um sich selbst am genaueren hinscheuen zu hindern.