Bildgäste, die keiner kennt

Ein Amateurbild mit unbekannten Menschen

Autor: Michael Guggenheimer

Wenn ich auf Wanderungen Landschaften fotografiere oder in einer Stadt Häuser, dann achte ich darauf, dass keine Passanten durch meine Bilder wandern. Das bedeutet häufig warten. Warten bis die allerletzten Bildstörer vorbei sind. Dann erst wird das Bild gemacht! Endlich. Ganz schnell. Das Bild machen bevor der nächste Störer mir ins Bild gerät. Stöhn! Weshalb habe ich nicht bemerkt, dass da noch jemand ins Bild gelatscht ist? Wiederholen. Wieder warten. Manchmal kapituliere ich, lass‘ Leute dann doch über die Bildfläche vorbeigehen, nehme sie widerwillig in Kauf, nehme sie mit in meine Aufnahme. Menschen, die ich nicht kenne, Zufallsgäste auf meinen Fotografien, nicht wegwischbar. Und sie bleiben auf meinen Bildern. Bildpassanten. Ich habe keine Ahnung, wer sie sind. Sie bevölkern meine Bilder. Mein Bildarchiv ist voller Unbekannter. Sie als unbekannte Gäste bei mir so wie ich gewiss manchmal Gast bin in Bildern von anderen Fotografierenden. Manchmal schaut ein Profifotograf bei einer Lesung vorbei, an der ich Zuhörer oder Moderator bin. Ohne gefragt zu werden, lande ich auf einem Bild. Und dann kann es vorkommen, dass ich mir im Netz bei Google oder Facebook begegne und staune, weil ich mich nicht an jene Veranstaltung erinnern kann, an der ich eindeutig – der Bildbeweis ist da – dabei war. Manchmal bin ich mit dem fremden Bild, auf dem ich zu sehen bin, zufrieden, in der Regel eher unzufrieden, weil ich finde, ich sei nicht fotogen.

Ich war schon in einer gezielten Aktion Bildgast auf fremden Bildern. Ich habe vor einigen Jahren in der kroatischen Touristenstadt Opatija mit meinem Freund Richard einige Ferientage verbracht. Beim Schlendern von den Badestränden zu unserer Pension durch das Stadtzentrum war uns aufgefallen, dass mehrere Hochzeitspaare in etwas eiliger Kadenz nacheinander aus der St.-Jakobskirche gekommen sind. Wir schauten zu wie sie auf der Treppe vor der Kirche von einem Hochzeitsfotografen hingestellt wurden, die kleinen Kinder in der vordersten Reihe, die grösseren schön drapiert hinter den Kleinen, die Grosseltern und Eltern des Brautpaars rechts und links von den frisch Vermählten hingestellt. Trauzeugen, Onkel und Tanten, Freundinnen der Braut du Freunde des Bräutigams nach geheimen Regeln vom Hochzeitsfotografen dirigiert und platziert.

Der Fotograf stets laut rufend, der mit seinen ausgestreckten Händen gestikulierend die Traugesellschaft dazu aufforderte, dichter beieinander zu stehen. Wir standen da, schauten zu, amüsierten uns, beurteilten die Kleider der eben vermählten und deren Entourage. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern wie es dann dazu kam: Ich weiss nur noch, dass ich meinem Freund Richard vorschlug, uns in die Reihe der Freunde einzuschmuggeln, uns auf diesen Fotos als Freunde auszugeben, die später niemand mehr kennen würde. Das war’s: wir als unbekannte Bekannte schmuggeln uns in fremde Bilder hinein. Richard ist stets vorsichtig, war es immer schon. Er mochte nicht mitmachen und so bin ich auf den Bildern von mehreren Hochzeitspaaren zu sehen. Der Fotograf konnte nicht wissen, dass ich nicht zur Hochzeitsgesellschaft gehöre. Der Blick eines Hochzeitsfotografen heftet sich auf Braut und Bräutigam. Mir war klar, ich bin auf Fotos zu sehen, die ich nie sehen würde, nie zu Gesicht bekommen würde. Das dachte ich. Bis ich am Tag oder zwei Tage nach dem Fotoshooting beim Vorbeigehen im Schaufenster des Fotoladens an der Strandpromenade von Opatija mich auf mehreren Fotos inmitten von Hochzeitsgesellschaften sah! Ich habe mich nicht getraut, den Fotoladen zu betreten und Bilder zu bestellen. Ich stelle mir vor, wie die Neuvermählten einige Wochen nach der Hochzeit die Bilder im Hochzeitsalbum blättern, die Bilder anschauen und rätseln, wer dieser Freund in der hintersten obersten Reihe sein könnte, den sie beide nicht kennen.

Ich als Fotograf und Menschen, die auf meinem Bild landen

Dass ich damals auf fremden Fotos landete hatte ich längst vergessen. Bis ich den Song von Manuel Stahlberger «Lüt uf Fotene» hörte, in dem dieser feine Beobachter des Alltags genau jene Erfahrung schildert, die ich kenne. Ich beim Moderieren einer Veranstaltung, der ich auf Fotos von Zuhörern lande. Oder ich unterwegs als Tourist Bilder machend, auf denen Leute festgehalten werden, die vielleicht gar nicht auf Fotos von anderen landen möchten. Bilder auf denen ich zu sehen bin, von denen ich aber keine Ahnung habe. Bilder von Menschen in meinen Alben oder in meinem Bildarchiv, von denen ich keine Ahnung habe, wer sie sind. Und was auch noch passieren kann: Je länger ich schon fotografiere, desto häufiger begegne ich Bildern, die ich eindeutig gemacht habe, von denen ich aber nicht mehr weiss, wo sie aufgenommen wurden. Wortkünstler, Kabarettist, Musiker und Cartoonist Manuel Stahlberger trägt seine Songs auf Schweizerdeutsch vor. Ich mag seine Texte, Ich war mehrfach an seinen Auftritten als Zuschauer und Zuhörer, ich meine, alle seine Songs zu kennen, die ich entweder auf CD oder in meinem Smartphone besitze. Hier sein Song, in dem es um Fotos geht, auf denen fremde Leute zu sehen sind, die man beim Anschauen der Bilder nicht kennt. Ich kenne das. Und manuel Stahlberger beschreibt das wunderbar!

LÜT UF FOTENE

Lüt uf Fotene

I mine Albe

Verschwumme

Oder nume halbe

Im Hindergrund

Und am Rand

Laufed us em Bild

Stönd umenand

Ässed öppis

Lueged öppisem zue

Hend mit mir

Gar nüt z tue

Mir am Match

Mir am Vesuv

Und sie sind eifach

Au no druf

Lüt i Städt

Lüt a Stränd

Woni gsi bi mol

Wo mir Fehri gmacht hend

Lüt uf Fotene

Woni nöd kenn

Wo eifach döt

Grad gsi sind denn

I uf Fotene

Irgendwo

Bi fremde Lüt

Am umestoh

Uf Cheminéesims

Eltere, Chinde

Im Hindergrund i

Am Schue binde

Vorne sie

Am Grimasse schniide

Hine i

Und d Pyramide

Hine i

Und anderi no

Lüt uf Fotene

Irgendwo

Lüt uf Fotene

I mine Albe

Verschwumme

Oder nume halbe

Lüt uf Fotene

Woni nöd kenn

Wo eifach döt

Grad gsi sind denn

Aus der CD „Lüt uf Fotene“. Als CD oder im Netz. Unbedingt runterladen und hören! Mehr dazu: https://www.stahlberger.ch/ Mehr zu Manuel Stahlberger und seiner Band: https://www.stahlberger.ch/wp-content/uploads/2022/03/WOZ-3.3.2022.pdf

Eingeworfen am 4.5.2022

3 Kommentare

  1. Nachdem ich deinen Text gelesen habe, musste ich erkennen, dass weitere Fotos entstanden sind. Ich bin mir sicher, dass du diese Aufnahmen nie sehen wirst. Aber, jetzt über das Wissen der Existenz verfügst.

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  2. sehr schöner text, sehr schöner song. anwesend sein als fremdeR. als rätsel.ich mache mir oft auch gedanken über zufallsgeneinschaften. momentan auf einer langen bahnreise. ich sitze zehn stunden meines lebens neben einem menschen, den ich nie mehr sehen werde – und mache kein foto von ihm…

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  3. „Und dann kann es vorkommen, dass ich mir im Netz bei Google oder Facebook begegne und staune, weil ich mich nicht an jene Veranstaltung erinnern kann, an der ich eindeutig – der Bildbeweis ist da – dabei war.“ Gerade ist es mir mit dem Titelbild dieses Beitrags so ergangen. Erst erkannte ich eine Freundin im Publikum und nach dem dritten Hingucken mich selbst da sitzen. Schöner Text!

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