Vom Text bis zum Bild ein Einmannprojekt

Der Granzbahnhof von Portbou in Spanien

Autor: Michael Guggenheimer

Text, Bilder, Satzherstellung, Einband und Vertrieb: Alles am Buch «ausweglos in Portbou» hat Autor Walter Aeschimann selber gemacht. Mit dem Rad und zu Fuss ist er den Spuren der Flucht des deutschen Philosophen Walter Benjamin nachgereist. Den Fotografien kommt im Buch eine leise Rolle zu.

Immer wenn ich meine Buchhandlung aufsuche, um wieder ein bestelltes Buch abzuholen, bleibe ich vor Betreten des Ladens am Schaufenster stehen, um mir die ausgestellten Bücher anzuschauen. Ich weiss nicht mehr, was damals im Februar meinen Blick mehr anzog. War es der Titel des Buchs? Oder war es die Gestaltung des Einbands und die sichtbare Fadenheftung? «ausweglos in Portbou» heisst es in schwarzen Lettern auf hartem grauem Kartoneinband, der Titel unkonventionell von oben nach unten laufend, das erste Wort ohne Grossbuchstaben geschrieben. Keine Schutzhülle. Das Buch umso auffälliger, weil der Einband bildlos ist. Die Vertreterkonferenz eines jeden Verlags hätte von der Verlagsleitung gewiss ein starkes Coverbild verlangt, handelt es sich doch in diesem Buch um die Flucht und um die letzten Tage eines berühmten Flüchtlings. Ein Verlagsname fehlt auf dem Einband.

Autor dieses im Selbstverlag so anders daherkommenden Buchs ist Walter Aeschimann, Historiker, seit kurzem pensioniert. Er hat das Buch persönlich in die Buchhandlung gebracht. Das Lektorat besorgte Buchhändlerin Charlotte Nager, früher Lektorin von Beruf. In meinem Exemplar lagen zwei kleine Karten. Eine Visitenkarte mit Berufsbezeichnung des Autors und seine Adresse, auf der Rückseite eine schwarz-weisse Fotografie: Zwei Personen in weiter Ferne auf einer Anhöhe stehend, vor ihnen das Meer. Und dann noch eine kleinere weitere Visitenkarte, die Fotografie einer Bahnhofshalle, eine Konstruktion aus Eisen und Glas, wohl vor mehr als hundert Jahren erbaut. Die beiden Karten als Aufforderung zur Kontaktaufnahme? Ich jedenfalls habe sie so verstanden.

Erschienen ist das Buch im Dezember 2020. Die erste Auflage mit 200 Exemplaren, mein Exemplar weist die Zahl 120/200 auf. Die ISBN-Nummer befindet sich im Buchinnern und nicht wie sonst üblich hinten auf dem Einband. Im Vorwort heisst es: «Exil, Flucht und entmenschlichte Flüchtlingskolonien sind keine neuen Phänomene. Auch nicht, dass die zivile Gesellschaft damit überfordert ist. La Retirada im spanischen Bürgerkrieg und die Fluchtbewegungen im Zweiten Weltkrieg sind erste humanitäre Katastrophen des 20. Jahrhunderts in West-Europa. Hunderttausende waren davon betroffen, auch der Philosoph und Kritiker Walter Benjamin. Eine Reise an historische Orte in Südfrankreich und Katalonien».

Es ist wieder Krieg in Europa. Jetzt sind wieder unzählige Menschen auf der Flucht. So viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg vor über 70 Jahren nicht mehr. In den Zeitungen erscheinen Interviews mit Frauen, die aus der Ukraine geflohen sind. Erschreckende Geschichten von grausamen Bombardements, von Verlusten und Entbehrungen, von Ehepartnern, die in der Ukraine geblieben sind und gegen die russischen Invasoren kämpfen. Walter Aeschimanns Buch über die Flucht Walter Benjamins reiht sich ein in eine Folge von Büchern zu Flucht und Verlust, die ich in den letzten Monaten gelesen habe: «Sie kam aus Mariupol» von Natascha Wodin und «Alles, was wir nicht erinnern» von Christine Hoffmann. Wodin erzählt die Flucht einer jungen Frau aus der ukrainischen Hafenstadt Mariupol. Eine Geschichte aus der zerstörten Stadt im Jahr 1944, als die Deutschen Mariupol zerstörten. Die junge Frau ist die Mutter der Autorin. Hoffmann erzählt die Geschichte ihres Vaters, der Anfang 1945 aus Schlesien nach Westen floh. 75 Jahre später geht die Tochter denselben Weg, 550 Kilometer nach Westen. Und so wie Aeschimann in seinem Buch setzen die beiden Autorinnen Fotografen sparsam ein. Bilder als visuelle Hilfen von Fluchtgeschichten: Landschaften, Häuser, manchmal auch Personen.

Walter Aeschimann ist Schweizer. Seine Eltern mussten nicht fliehen. Der Historiker ist ein passionierter Radfahrer, der jedes Jahr eine lange Radreise unternimmt, mehrere hundert Kilometer auf dem Rad unterwegs ist, sich Landschaften und besondere Geschichten vornimmt, die er abfährt. Eine Radfahrt von Triest nach Odessa, eine andere bis ans östliche Ende der Türkei gehören zu diesen langen Exkursionen. Im Frühling 2022 ist er unterwegs von Zürich aus über den Balkan in die Türkei auf dem Weg nach Israel und Palästina auf der Route von Menschen, die vor und nach dem Zweiten Weltkrieg Europa verlassen haben. Auslöser dieser langen Erkundungsfahrt ist die Geschichte der Vorfahren seiner Partnerin. Und es wird wieder ein Buch geben über Fluchtrouten. Eine Kamera hat er wieder dabei und einen Laptop. Aeschimann hat sich durch historische Bücher über Flucht und Vertreibung gelesen, er ist gut vorbereitet losgezogen. Und er macht unterwegs Notizen, beschreibt seine Reise und Begegnungen mit Menschen unterwegs, seine Radfahrt ist vergleichbar mit Christiane Hoffmanns langer Wanderung zu Fuss.

Die Arbeit an seinem ersten Fluchtbuch über den Weg des Philosophen Walter Benjamin hat er während des Lockdowns der Pandemie vorbereitet: «Als im Februar 2020 das Virus SARS-CoV-2 um den Globus raste, Verwirrung stiftete und die Mässigung befahl, begab ich mich auf Online-Reise. Der Streifzug lenkte mich von einer Verwirrung in die nächste, ehe der verwirrte Geist von Walter Benjamin mich innehalten liess», schreibt Aeschimann. «Es störte mich nicht im geringsten, dass weiss Gott schon viel über den deutschen Denker und Kritiker geschrieben worden ist. Vielmehr spornte es mich an, eine eigene Geschichte zu erzählen».

Benjamins Fluchtweg nach Porttbou

Aeschimann ist es gelungen, eine eigene Geschichte über die Flucht Walter Benjamins aus Deutschland über Frankreich und Spanien zu erzählen. Und das obschon Benjamin die Flucht aus Europa nicht wirklich gelungen ist. Denn in den USA, wohin er wollte, ist Benjamin nicht angekommen. Entstanden ist eine sparsam bebilderte Erzählung über sich selbst als Reisenden und eine Schilderung von Biografien von Flüchtenden. Aeschimanns 150 Seiten umfassende Erzählung verknüpft Lektüreeindrücke über Walter Benjamins Flucht vor den Nazis mit Zitaten aus Benjamins Werk und eigenen Beobachtungen an jenen Orten, an denen der von Krankheit geschwächte Benjamin auf der Flucht war. Andere bekannte Personen, auch sie auf der Flucht, kommen im Buch vor. Ortschaften wie Banyuls-sur-Mer, wo Exilanten sich trafen und von wo sie auf dem Weg nach Spanien und Portugal und von dort in die USA oder nach Südamerika sich aufmachten, kommen in seinem Buch vor. Zudem der Weg zu Fuss über die französisch-spanische Grenze, den Walter Benjamin begangen hat. Wiederholt wurde der Weg über Pyrenäen ins spanische Portbou von Historikern als beschwerlich geschildert. Wahrscheinlich so beschrieben, weil sie den Weg nicht begangen haben. «Geübte Wanderer schaffen den Weg über die französisch-spanische Grenze in fünf Stunden», sagt Aeschimann. «Man muss zwar den Weg manchmal etwas suchen, er führt über Weinberge. Walter Benjamin war schon sehr angeschlagen, er ist mehrfach über Wurzeln gestolpert. Manche Autoren beschreiben, wie unglaublich gefährlich der Weg ist, was er wirklich nicht ist». Es sind persönliche Erlebnisse auf einer Radfahrt und auf einer Wanderung auf den Spuren Benjamins im Sommer 2020 als die Pandemie wieder Reisen möglich machte.

Begleitet wird der Text von einer unabhängigen Fotostrecke, die die Landschaften zeigt, die Benjamin auch gesehen hat. Auf diesen sparsam im Buch eingestreuten Bildern ist immer wieder – von weitem und nicht wirklich erkennbar – Aeschimann selber an den Orten von Benjamins Flucht zu sehen. Immer wieder von hinten zu Fuss unterwegs. Was die Lektüre des Buchs so spannend macht, ist der assoziative Erzählstil und sind die vielen kurzen Textabschnitte, die einander wie Filmaufnahmen folgen, immer wieder sind es Schnitte, Erzählsprünge von der einen (früheren) Erzählebene zur nächsten (jetzigen). Aeschimann hat früher beim Fernsehen gearbeitet, der Autor von grossen Zeitungs- und Zeitschriftenreportagen kann dicht erzählen, bringt auch sich in den Erzählfluss ein. Die Landschaft, die der flüchtende Walter Benjamin gesehen hat, zeigt Aeschimann nochmals, dazu auch Bilder vom Konzentrationslager von Gurs in Frankreich, wo Benjamin vorübergehend inhaftiert war. Es sind keine dramatischen Bilder von einst. Gerade die diskrete, stille Art der Fotografie passt so gut zu Buch. Und was Aeschimanns Buch auch noch auszeichnet: Es sind nicht nur sein Text und seine Fotografien. Er hat den Text gesetzt, er hat jedes Buchexemplar selber in seinem Wohnzimmer in Handarbeit (drei Exemplare pro Abend) gebunden und dann ausgeliefert. Weil während der Pandemie eine Papierknappheit herrschte, weist das Buch mehr als eine Papiersorte auf, was sichtbar ist. Ein Einmannprojekt von der Vorbereitung bis hin zur Radfahrt und Wanderung und zur Buchherstellung. Eine spannende Erfahrung. Aeschimanns nächstes Buch, davon bin ich überzeugt, wird nicht mehr im Selbstverlag erscheinen. Es sei denn, dass er wieder ein Buch von A bis Z selber gestalten und produzieren will.

Walter Aeschimann, ausweglos in Portbou, ISBN-Nummer 978-3.033-07978-6, erhältlich in allen guten Buchhandlungen, stets vorrätig in der Buchhandlung mille et deux feuilles. Buchhandlung zum Mittelmeer und mehr. Glasmalergasse 6 8004 Zürich Tel. 044 291 11 33 . (Beide Bilder von Walter Aeschimann).

Eingeworfen am 19.4.2022

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