Bilder verweben sich zu Geschichten

Türkische Familie auf dem Weg von der Schweiz in die Türkei

Autor: Michael Guggenheimer

Fast alle Schweizer Autorinnen und Autoren kennen Fotografin Ayse Yavas. Denn wohl keine Fotografin, kein Fotograf hat so viele unter ihnen porträtiert. Yavas’ Autorenporträts waren schon an Ausstellungen zu sehen, erscheinen regelmässig in den Zeitungen und sind häufig auf Buchumschlägen von Romanen gedruckt. In der Ausstellung «Und dann fing das Leben an» im Stadtmuseum Aarau setzt sich die Zürcher Fotografin mit Bilderalben und einzelnen privaten Fotos sowie mit der Geschichte ihrer aus der Türkei stammenden Herkunftsfamilie auseinander. Doch die Ausstellung ist mehr als eine Fotoausstellung, gewährt sie doch einen Einblick in die Lage von Türkinnen und Türken, die in die Schweiz eingewandert sind.

Schülerinnen und Schüler aus Spreitenbach stehen vor den Ausstellungswänden im Stadtmuseum Aarau und sitzen an den Vitrinen, lesen die Geschichten von türkischen Familien, schauen sich alte Amateurfotos und neue Porträtbilder an und füllen Papierbögen aus, auf denen Fragen stehen wie «Wo arbeiteten die Männer und Frauen aus der Türkei, die in den 1960er,-70er und 80er-Jahren in die Schweiz kamen?». Oder «Wo und wie wohnten die aus der Türkei stammenden Menschen damals?». Es sind Fragen zu den acht thematischen Stationen einer Ausstellung, die die Zürcher Fotografin Ayse Yavas und die Ethnologin und Ausstellungsmacherin Gaby Fierz aus Basel nach mehreren Erkundungsreisen in die Türkei und nach Interviews mit 30 Personen in der Schweiz und in der Türkei gemacht haben.

Auf den Porträtsfotos, die Ayse Yavas in den letzten drei Jahren aufgenommen hat, sind Familienangehörige der Fotografin, türkische und Schweizer Personen zu sehen aus dem Bekannten- und Freundeskreis, Türkinnen und Türken, die nach 30 und mehr Arbeitsjahren in der Schweiz in die Türkei zurückgekehrt sind, um in der alten Heimat ihren Lebensabend zu verbringen, etwas Neues zu beginnen oder um schlicht wieder «zuhause» zu sein und solche, die in der Schweiz geblieben, hier alt geworden oder geboren und aufgewachsen sind. Fotografin Yavas zeigt sie alle in ihren Lebensumgebungen. Und was diese Porträts so besonders macht: Es sind nicht nur die Gesichter, die da vor einer Studioleinwand zu sehen sind. Die einen stehen da vor ihrem Wohnhaus, eine Porträtierte zeigt sich mit ihrem Hund, ein erfolgreicher junger Mann ist mit seiner Ausrüstung auf dem Golfplatz zu sehen. Und so schön, dass auch Ayse Yavas’ Schweizer Ehemann und die beiden Töchter zu sehen sind. Als Kontrast kommen die vielen Bilder aus privatem Fotobesitz zum Zug, besonders köstlich jene Bilder, die zu zeigen versuchen, dass man in der Schweiz zu Besitz gekommen und gleichzeitig der türkischen Heimat verbunden ist.

Ayse Yavas selber wurde in der Schweiz geboren und verbrachte ihre ersten sieben Jahre in der Türkei. Viele Kinder türkischer Eltern, die in der Schweiz Arbeit gefunden haben, sind damals während einigen Jahren bei ihren Grosseltern in der Türkei aufgewachsen. Weil sie sich als Jugendliche im Alter von 15 Jahren von ihrer Familie abgesetzt und einen eigenen Weg gegangen ist, haben sich ihre Eltern während mehreren Jahren von ihr abgewendet. Die Familienfotos, auf denen das Kind Ayse zu sehen waren, verschwanden aus den Familienalben. Dank der heimlichen Hilfe eines Bruders konnte sie aber Kopien von Bildern ihrer Familie in ihre eigenen Alben kleben. Jahrzehnte nach der Trennung von den Eltern, denen sie sich mittlerweile wieder angenähert hat, geht die Fotografin Fotos von früher nach, auf denen ihre Familie, Verwandte, befreundete Familien zu sehen sind, Bilder von türkischstämmigen Menschen, denen die Türkei und die Schweiz gleichermassen Lebensorte und Heimaten sind. Auf Tafeln erklären die beiden Ausstellungsmacherinnen die Geschichte der Zugewanderten Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Türkei in der Schweiz. Spannend an der Präsentation im Stadtmuseum Aarau ist die Gleichzeitigkeit der Einblicke in eine Familiengeschichte und in die Lebenswelten der türkischen Arbeitsmigrantinnen und -migranten, häufig nach einer Heimat suchend.  Dazu Ayse Yavas: «Mir wurde klar, wie wenig ich bis anhin über die Geschichte meiner Eltern, über ihre Migrationserfahrungen und die ersten Jahre in der Schweiz wusste und ich begann, sie mit anderen Augen wahrzunehmen. Als eigene Persönlichkeiten, mit ihren eigenen Plänen, Wünschen und Hoffnungen, die viele Parallelen zu anderen Migrantinnen und Migranten aufwiesen».

Schüler in der Ausstellung in Aarau

Arbeit, Ankommen, Kindheit, Freizeit, Lebensräume, Reisen, eigene Wege gehen: Das sind die Themen der Ausstellung. Bilder und Texte ergänzen sich da. Die erläuternden Texte der Ausstellung sind in Deutsch und Türkisch gehalten. Viele Fotos stammen aus Alben und Fotobeständen mehrerer Familien. Zwei unterschiedliche Erkenntniswege, die sich bestens ergänzen, verschränken sich in der Ausstellung: Ethnologin Fierz interessiert sich primär für die Geschichte der Migranten in der Schweiz und für die Erfahrungen der türkischen Migranten. Gemeinsam mit der Fotografin hat sie Menschen zu ihrem Leben und zu ihren Erfahrungen interviewt. Ayse Yavas’ Auseinandersetzung mit dem Thema hatte als Ausgangspunkt die eigene Familiengeschichte und erfolgt assoziativ-bildhaft. Sie hat die Interviewten fotografiert. Befragt, wie die Arbeit am Ausstellungsthema sie verändert haben könnte, meint Ayse Yavas: «Früher fragte ich mich immer wieder: Wo gehöre ich hin? Irgendwie bin ich erst jetzt in der Schweizer Gesellschaft integriert und konnte ich mich mit meinem Hintergrund versöhnen. Jetzt kann ich beide Kulturen miteinander verschmelzen lassen».

«Durch das gemeinsame Herangehen mit Gaby Fierz erreichte mein Blick auf meine Familie und ihre Bilder eine neue Dimension und gewann an Tiefe und Schärfe», schreibt Ayse Yavas im Begleitheft zur Ausstellung. «Mir wurde klar, wieviel ein Album oder eine einzelne Fotografie erzählen können. Die Alben wurden für mich zu Orten des Erinnerns, aber auch des Nicht-Erinnerns. Das Gezeigte verwies immer auch auf das Nicht-Gezeigte. Immer war da in den Fotografien das Zusammenspiel zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen – ein Wesenszug, der auch in meiner Porträtfotografie eine wichtige Rolle spielt. Und so konnte es sein, dass ich bei langer Betrachtung der Bilder, nicht mehr wusste. Ob das Abgebildete ‘wirklich’ so war oder nicht ganz anders».

Ayse Yavas' Mutter von der Tochter fotografiert

Befragt, was die Auseinandersetzung mit den Fotografien und den Geschichten, die die interviewten Personen bei ihr ausgelöst haben, sagt die Fotografin: „Meine anfangs isolierten Geschichten und Bilder begannen sich aus meinen Alben herauszulösen und verwoben sich mit den Geschichten und Bildern der anderen Familien zu einem grossen Teppich, der an Grösse und Dichte ständig zunahm und weiter zunimmt. Auch mein eigenes Familienalbum hat sich zu einer vielschichtigen Chronik entwickelt, die ich, mit neuem Wissen und neuen Erzählungen bestückt, der nächsten Generation weitergeben kann. Ich hoffe, dass durch diese Ausstellung auch andere Menschen dazu angeregt werden, ihre Geschichte mit neuen Augen zu sehen“.

Das grosse Bild zeigt eine türkische Familie auf Rast unterwegs von der Schweiz in die Türkei. Das Bild am Schluss: Ayse Yavas‘ Mutter aufgenommen von Ayse Yavas. Die Ausstellung „Und dann fing das Leben an – Eine biografisch-fotografische Recherche in der Schweiz und in der Türkei“ bis zum 29. Mai im Stadtmuseum Aarau, vom 16. 09 biis 6. 11.2022 in der Photobastei Zürich und vom 15.01. bis 12. 03. 2023 im kHaus Kaserne, Basel. Ausgehend von den Interviews, die Gaby Fierz und Ayse Yavas durchgeführt haben, hat Ursina Greuel ein Theaterstück verfasst, das im sogar theater in Zürich sowie in der Alten Reithalle in Aarau aufgeführt wird.

Eingeworfen am 21.3.2022

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