Künstler zu Fuss unterwegs

Zu Fuss unterwegs sein, spazieren und wandern. Mit der Pandemie und ihren Lockdowns, den Schwierigkeiten ausgedehnt zu reisen, haben viele das Wandern und den Spaziergang entdeckt. Die Ausstellung «Walk!» in Frankfurt befasst sich mit dem Umgang von Künstlern mit dem Wandern. Viele Arbeiten erfolgten fotografisch oder per Video.

Thomas Knubben machte sich vor einigen Jahren im Winter von Stuttgart nach Bordeaux auf. Zu Fuß. Immer mal wieder nach dem Weg suchend, über Bundesstraßen hinweg, durch Wiesen und verwirrende Gewerbegebiete und unter Autobahnen hindurch. Warum? Er war dem Dichter Friedrich Hölderlin auf der Spur, der im Winter 1801 eine Hauslehrerstelle in Bordeaux angenommen hat, nachdem in Deutschland so vieles gescheitert war. In seinem 2012 erschienen Buch Hölderlin. Eine Winterreise schildert Knubben, Professor für Kulturwissenschaft und Kulturmanagement an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, seine Wanderung. Am 22. Januar 2020 machte sich Christiane Hoffmann in einem Dorf im polnischen Niederschlesien auf den Weg. Sie lief 550 Kilometer nach Westen, es ist der Weg, auf dem ihr Vater 75 Jahre zuvor im Winter 1945 vor der Roten Armee geflohen ist. In ihrem Buch «Alles, was wir nicht erinnern» beschreibt die stellvertretende Sprecherin der deutschen Bundesregierung ihre Wanderung.

„Wie bewegen wir uns durch die Welt? Wie gehen wir durch unser Leben, was nehmen wir gehend wahr?“ sind Fragen, mit denen sich in der Ausstellung „Walk!“ in der Frankfurter Schirn Kunsthalle 40 Künstlerinnen und Künstler auseinandersetzen. Die rund 100 Fotografien, Videoarbeiten, Collagen, Zeichnungen, Malereien und Skulpturen sowie Live-Performances und partizipative Projekte im öffentlichen Raum reflektieren auf künstlerische Weise aktuelle Debatten um Themen wie Globalisierung und Klimawandel und verfolgen Formen von Protest und Demonstration. Man geht in der Ausstellung von einer künstlerischen Position zur nächsten und bekommt einen bewussteren Blick aufs Gehen in der Stadt und über Land und was es alles bedeuten kann.

Die Ausstellung will die Bedingungen unserer Umweltwahrnehmung bewusster zu machen. Die Beschäftigung mit dem Gehen ist in den beiden Jahren von Corona intensiver geworden, da man weniger reisen konnte, viel Zeit mit Homeoffice oder in Quarantäne in den vier Mauern der eigenen Wohnung verbrachte und angesichts der vielen zuhause gelebten Stunden und Tage ein starkes Bedürfnis nach Begegnung mit der Natur entstanden ist, das Spazieren in der Stadt und das Wandern in der Landschaft zugenommen haben. „Es gibt keinen besseren Moment, um das Gehen in der zeitgenössischen Kunst zu beleuchten und es in Bezug auf aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen zu kontextualisieren“, meint Philipp Demandt, Direktor der Schirn Kunsthalle und weist auf die Zeit, in der man sich nicht in Cafés, Ausstellungen, Theater oder gar zuhause Freunden begegnen konnte. Da blühten die gemeinsamen Spaziergänge und Wanderungen von Freunden, da man sich in Parkanlagen oder auf Wanderungen traf und gehend austauschen konnte ohne gleich maskenbewehrt vor einer Ansteckung aufpassen musste.

Tätigkeiten wie Spazieren oder Wandern ermöglichen als sinnliche Erlebnisse eine Verbindung mit Natur und Umwelt sowie eine Neuerfahrung des Selbst beim Beobachten des Durchwanderten. Die „Walking Art“, die sich in den 1960er- und 1970er-Jahren neben der Land Art vor allem im Außenraum entwickelt hat, stellte die unmittelbare Naturerfahrung in den Mittelpunkt, indem sie das Wandern zum Material ihrer Arbeit machte. Eine Zeitlang etwas vergessen, erlebt sie derzeit in verschiedenen Ausstellungen ein Revival.

Zwei wichtige Exponenten in der Kunst, die sich mit dem Gehen befassen, sind der Schweizer Soziologe und Spaziergangswissenschaftler Lucius Burckhardt (1925 – 2003) und der englische Künstler Hamish Fulton. Burckhardt, früher Professor in Ulm und Begründer der sog. Promenadologie, der Spaziergangswissenschaft, kommt in der Ausstellung nicht vor. Hamish Fulton, ein geistiger Vater ambulatorischer Entschleunigung, hat England und den europäischen Kontinent in 35 Langstreckenwanderungen in viele Richtungen, von „Coast zu Coast“ und Flüssen entlang,  durchwandert. Fulton schreitet aus, seine Walk-Distances sind weit. Seit bald 50 Jahren unternimmt der 75 jährige Künstler auf der ganzen Welt Wanderungen nach eigenen Regeln, welche das Gehen zeitlich, thematisch und örtlich eingrenzen. Seine Erfahrungen setzt er um in unterschiedliche künstlerische Medien, darunter Fotografien, grosse topografische Wand(er) Bilder, Holzarbeiten und Malereien. Jede Arbeit enthält zudem einen knappen Walk Text, der die Fakten seiner Wanderung benennt. Fultons Arbeiten sind immer wieder auch politisch, hinterfragen nationale Grenzziehungen und thematisieren Kräfteverhältnisse im Staatengebilde.

Wie das Gehen beobachtet und überwacht wird, zeigen Arbeiten von Bani Abidi oder Özlem Günyol & Mustafa Kunt. Sie haben einen Privatdetektiv engagiert, der den Auftrag hatte, ihre Bewegungen in der Stadt an einem im voraus nicht bestimmten Tag, zu beobachten und verfolgen. Keine Bewegung, keine Begegnung ist diesem Verfolger, dessen Notate und Fotos in der Ausstellung zu sehen sind, entgangen. Die pakistanische Künstlerin Bani Abidi hat die Stadt Karachi durchwandert und alle Barrieren, die sich gegen Autos und Fussgänger richten, fotografiert, die sie in digitalen Prints präsentiert. Ihr Beitrag Security Barriers A – Z (2009 – 2019) gleicht einem Spezialkatalog für Stadtmobiliar, das dem Schutz und der Sicherheit von Plätzen und Gebäuden dient. Die behördlichen Sicherheitsbarrieren dienen als Hindernisse, die das Hinübergehen von öffentlichem zu nicht öffentlichem Raum unterbinden.

Der belgische Künstler Francis Alys zeigt eine Arbeit, die er in Mexiko-Stadt realisieret hat: Aus Blech hat er kleine Hunde auf Rädern hergestellt, die er im Stadtraum an einer Schnur spazieren führt. Kaum ein Passant beachtet diesen Spaziergänger mit falschem Hund. Nicht anders geht es der koreanischen Kimsooja: Mit ihrer fotografischen Arbeit A Needle Woman zeigt sie, wie sie in den überfüllten Strassen von Tokio, New York, Kairo und Delhi vollkommen still steht, starr in Grau gekleidet. Die Passaanten drängeln sich, keiner blickt in ihre Richtung, keiner schaut sie an, alle eilen sie einem Ziel entgegen, beachten die still Stehende nicht.

Needle Woman inmitten von Passanten

Der Engländer James Bridle setzt sich in seinen Arbeiten mit der Überwachung durch neue Technologien auseinander: Auf einem 8 km langen Spaziergang durch einen Teil von London fotografierte er 427 Überwachungskameras. Dabei wird angenommen, dass das längst nicht alle auf Bridels Wegstrecke sind. Die Passanten beachten die einzelnen Kameras nicht, die Kameras haben sich mit der Stadtarchitektur verschmolzen. Spannend zu wissen, ob und wie alle die Kameras auch den Fotografen fotografisch erfasst haben. Der amerikanische Künstler Anders Dickson setzt sich in seinen Fotografien mit der Signaletik an Strassenkreuzungen und Ampelübergängen in der Stadt auseinander: Er zeigt in seinen Fotos, wie die Wege in der Stadt durch Verkehrszeichen gelenkt werden. Der deutsche Künstler Daniel Beerstecher ist eher ein Meister der Mikrobewegungen: Er hat in seiner Serie „Walk in Time“ seine Bewegungen beim Gehen derart zeitlupenhaft verlangsamt, dass er beim Gehen seine Atem- und Herzfrequenzen auf bunte Diagramme in Spiralform übertragen hat. Sie hängen rund um einen TV-Bildschirm, auf dem seine minuziösen Bewegungen zu sehen sind. Beerstecher bewegte sich auf einer Distanz von 42 km entlang der Donau so langsam vorwärts, dass er gerade einmal 120 Meter pro Stunde zurücklegte. Insgesamt 6 Stunden pro Tag, 60 Tage lang, im meditativen Gehen.

Der Künstlerin Milica Tomic aus Belgrad ist aufgefallen, wie Denkmäler, Mahnmale und Schautafeln die historische Identität einer Stadt bewahren. Sie hingegen interessiert sich besonders für jene Ereignisse, die keine solche Repräsentation erfahren und früher oder später in Vergessenheit geraten. In einer fotografischen Arbeit aus Belgrad geht sie Orten des erfolgreichen antifaschistischen Widerstands nach, die in der Zeit der deutschen Besatzung. Tomic marschiert von einem solchen Ort zum nächsten, fotografiert sie und fügt ihre Geschichte an.

STrassensignaletik aus den USA lenkt Passantzenströme

Fotografisch setzen auch Jennifer Allora (USA) und Guillermo Calzadilla (Kuba) ihr Walk-Thema um: Zweimal drangen sie zusammen mit einer Gruppe von Aktivisten in einen der Bombenabwurfplätze der US-Marine an einem Strand in Puerto Rico ein. Die auf ihren Schuhsolen mit Profilen angebrachten Aufschriften hinterliessen im Sand gestempelte Sohlenabdrücke, Mitteilungen und Forderungen an die Soldaten, Aufforderungen, das Gelände zu verlassen. Jeder Schritt im Sand war eine Mitteilung, die sie auch fotografisch festhielten. Der Schweizer Jan Hostettler machte sich in Basel zu Fuss auf in Richtung Türkei. Sein Weg nach Istanbul folgte historisch gewachsenen und wichtigen Verkehrswegen, Orten und Geschichten. Acht Monate lang trug er nichts weiter im Gepäck als Kleidung, zwei Kameras und Notizbücher, von denen einige in einer Vitrine zu sehen sind.

Die Ausstellung „Walk!“ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt ist bis zum 22. Mai 2022 geöffnet. Die drei Bilder stammen von den Arbeiten von James Bridle (Überwachungskameras), Kimsooja (A Needle Woman) und Anders Dickson (Strassensignaletik).

Eingeworfen am 8. 3. 2022

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