Michel Folco ist ein französischer Erfolgsautor, früher war er Pressefotograf bei der Bilderagentur Gamma. Wie andere Menschen hat auch er sehr persönliche Gewohnheiten, manchmal sind es gar schrullige Macken. Eine seiner Marotten bestand darin, beim Gehen in der Stadt stets mit gesenktem Blick unterwegs zu sein, um ja nicht in einen Hundekothaufen zu treten. Sein Blick nach unten auf den Strassen von Paris hat ihn wiederholt auf zerrissene Bilderstreifen von Fotoautomaten gelenkt. Folco begann eines Tages einzelne Bilder und Bilderstreifen, zerrissene und intakte, die auf dem Boden neben Fotoautomaten oder im Abfalleimer gleich neben dem Automaten lagen, aufzuheben und zu sammeln. Weshalb? Nein, das kann er nicht erklären. Das war einfach so. Folco begann mit der Zeit, in der Nähe seiner Wohnung beim Bahnhof Gare de Lyon regelmässig zu den dort aufgestellten Fotoautomaten zu gehen. Und weil er dort lustige Bilderfunde machte, dehnte er seine Wege bis zum weiter entfernt liegenden Bahnhof Gare d’Austerlitz aus, um auch dort liegengelassene und weggeworfene Schnipsel aus den Fotoautomaten aufzuheben.
Das Sammeln dieser schwarzweissen Automatenporträts nahm mit der Zeit zu, die Wege Folcos auf der Suche nach weiteren Automaten und Bildern dehnten sich immer weiter aus: Mit der Zeit kamen Automaten in den Stationen der Pariser Metro hinzu. Folco erzählte der Tageszeitung Libération, dass er sich, um noch effizienter und noch mehr Automaten aufsuchen zu können, sogar einen Velosolex gekauft hat, mit dem er schneller unterwegs von einer Station zur nächsten, von einem Bahnhof zum nächsten fahren konnte. Nach einem Bilderbeutezug zuhause oder im Atelier angekommen, begann er die Fotos nach Themen zu ordnen: Da ergab sich die Kategorie derjenigen Personen, die vom Blitzlicht überrascht und geblendet wurden. Eine weitere Abteilung war jene der Personen, die sich für die Aufnahme nochmals kämmten aber nicht merkten, dass die Kamera schon längst in Betrieb war. Eine andere Kategorie wiederum galt jenen Personen, die glaubten, die Kamera sei doch nicht in Betrieb und sich zum Münzenschlitz bückten, um per Knopfdruck die eingeworfenen Münzen zurück zu verlangen. Wiederum eine andere Bilderserie ergaben Bilder, bei denen die Fotografierten zu tief oder zu hoch sassen, eine andere Serie war jene mit Personen, die sich bückten, um den Drehsitz höher zu stellen.
Gerade diese Fehlbilder haben die Fotografierten häufig in der Fotokabine oder neben ihr liegengelassen. Manchmal ganz und manchmal zerstückelt. Nicht selten fand er im Ausgabeschlitz ganze Bilderstreifen, die liegengelassen wurden, weil die Fotografierten keine Geduld hatten oder ihren Zug nicht verpassen wollten und davongeeilt sind. Einen besonderen Bilderfund machte Folco eines Tages: Ein Automat nahm zwar das Geld der Kunden, spuckte aber keinerlei Bilder aus. Als Folco just bei diesem Automaten ankam, spuckte das Gerät – welch’ ein Zufall – gleich vierzig Bilderstreifen nacheinander aus!
Eines Tages schenkte ihm ein Freund, der bei einem Verlag arbeitete, ein Blindexemplar, dickes Buch mit Leerseiten. Falcon begann die gefundenen und geordneten Pass- und Paarbilder einzukleben, Seite um Seite wuchs das Leerbuch zu einem opulenten Bilderband. Einige dieser Bilder veröffentlichte Falco im Magazin Zéro unter dem Titel «Nous avons les photos que vous avez jetées», «Wir haben die Bilder, die Sie weggeworfen haben». Das Leerbuch mit den gefundenen Bildern hat ein Verlag herausgebracht. Im Rahmen einer Ausstellung über Sammelleidenschaften hat er eine grosse Auswahl seiner Fundbilder gezeigt. Eines Tages traf Folco seinen Freund, den Filmemacher Jean-Pierre Jeunet, auf der Strasse, dem er sein mit Automatenbildern vollgeklebtes Leerbuch zeigte. «Behalte diese Geschichte mal für dich, eines Tages werde ich sie verwenden», sagte Jeunet seinem Freund. Und so kam die Geschichte denn auch mit einer Variation ins Kino: Im Film «Die fabelhafte Welt der Amélie» trifft Amélie auf einen Sammler von weggeworfenen Bildern aus Fotoautomaten, Nino Quincampoix. Im Bahnhof Gare de l’Est verliert er ein großes Fotoalbum, das Amélie findet.
Ein Fund allerdings irritierte Folco: Unterwegs von einem Automaten zum anderen fiel ihm eines Tages auf, dass ein Mann sich in einer ganzen Anzahl von Automaten hat fotografieren lassen und Bilderstreifen oder auch Bilderschnipsel nicht mitzunehmen schien. Wie kam es dazu, dass sich da jemand in derselben Woche in mehreren Bilderkabinen hat fotografieren lassen? Es war ein Zufall, der zur Lösung dieses Rätsels führte: Folco wollte sich gerade den Ausgabeschlitz eines Automaten begutachten, als ein Techniker der Automatenfirma die Kabine verliess. Im Schlitz lag noch ein Streifen mit Probebildern, auf denen der Techniker zu sehen war. Der Angestellte der Fotoautomatenfirma, das war jetzt klar, fuhr von einer Kabine zur nächsten, um sie zu testen, zu überholen oder um neue Entwicklerflüssigkeit in den Tank zu leeren. Seine Probebilder liess der Techniker einfach liegen. Weshalb sollte er sie denn mitnehmen, wofür sollte er sie gebrauchen?
Eingeworfen am 21. 2.2022
Das zweite Bild, das kleinere, ist ein Ausschnitt des grösseren, welches vom Autor gemacht wurde . In Zürich, irgendwo unter der Hardbrücke, so scheint mir. Ich vermute nun, es gibt das Buch mit den gefundenen Bildern gar nicht. Ich bin gleichzeitig erfreut, diese schöne Geschichte entdeckt zu haben und enttäuscht, dass ich über diesen Folco im Netz nichts finde. Nur die Angaben eines Folienherstellers.
Diese Idee wurde von Die Tödliche Doris von Nikolaus Utermöhlen und mir in Westberlin 1982 realisiert. Es entstand ein Film mit über 100 unbekannten Menschen. Ein weiterer Super-8-Film nur mit dem Fotomatonreparateur wurde 1982 auf der Biennale de Paris im Cinema experimental gezeigt. Das Konzept ist dort auch im Biennale Katalog zu findend.