Blicke ich aus dem Küchenfenster hinaus, dann sehe ich vier Balkone. Weil die Balkonbrüstungen im Nebenhaus durchsichtig sind, kann ich sehen, was auf den Balkonen steht. Ich sehe jede Woche wie die Müllsäcke aus den Küchen hinausgetragen und auf dem Balkon zwischengelagert werden. Dort bleiben sie ein, zwei, drei Tage, bis jemand sich ihrer erbarmt und sie in einen der grossen Metallcontainer im Erdgeschoss entsorgt. Häufig sind es die Kinder, die damit beauftragt werden, den Müll hinunterzutragen. Ich habe schon mehr als einmal den einen oder anderen Balkon im Nebenhaus fotografiert. Pflanzen, Gartenmöbel, Aschenbecher, Wäscheständer, Bierkisten. Stadtbalkone ähneln sich. Die Abfallsäcke stehen jedesmal an derselben Stelle: ganz am Rand und in der Ecke. Und das Material, aus dem diese Säcke gemacht sind, ist undurchsichtig. Was in den Abfallsäcken wirklich steckt, lässt sich nicht sehen, bleibt versteckt, geht dich nicht an. Müll soll man nicht sehen.
Ich weiss nicht, ob die kanadische Fotokünstlerin Kelly Wood (*1962) den Satz «Ist das Kunst oder kann das weg» kennt. Müll kann weg. Müll soll weg. Die Frage «Ist das Kunst oder kann das weg» wird oftmals in Zusammenhang mit unbeabsichtigten Entsorgungen oder unbedachten Änderungen an modernen Kunstwerken gebraucht. «Year Two oft he Continuous Garbage Project» heisst eine Serie von Fotos von Kelly Wood, die in Europa erstmals im Jahr 2000 in der Kunstgalerie von Wilma Lock ausgestellt wurde. Künstlerin Wood trug eine Zeitlang jede Woche einmal ihren in einem Abfallsack oder in einer Plastik-Einkaufstasche gesammelten Wochenmüll vor der eigentlichen Entsorgung in ihr Fotostudio, wo sie den Sack gut anleuchtete und fotografierte.
Nun sind die Abfallsäcke in Vancouver oder Toronto nicht so genormt wie in der ordnungsliebenden Schweiz. Mal tragen sie eine Werbebotschaft, mal sind sie weiss, ein anderes Mal gelb und immer leicht durchsichtig, am durchsichtigsten sind Einkauftaschen vom Supermarkt, die als Müllsäcke eine zweite Verwendung finden. Das Material aus dem sie hergestellt sind, ist sehr dünn. In Kanada kann man recht deutlich sehen, was Nachbars so alles entsorgen. Bis auf wenige Ausnahmen bei Reisen habe Kelly Wood Abfallsäcke immer in der gleichen Art fotografiert, weiss Kunsthistoriker Gerhard Mack in einem Aufsatz zu berichten: Auf weißer Unterlage und vor weißem Hintergrund, mit einer alten Haselblad 6 x 7cm-Negativ-Kamera, wie sie in der Werbebranche für Sachfotografien im vordigitalen Fotozeitalter üblich war.
Gerade die Transparenz der Abfallsäcke muss wohl Kelly Wood gereizt haben, die gefüllten Abfallsäcke zu fotografieren. 52 solcher Fotografien, jede Woche im Jahr ein Bild, gehören zur Serie Continuous Garbage und eine Reihe dieser Aufnahmen sind im Kunstmuseum Appenzell im Rahmen der Ausstellung «Bekannt Unbekannt – Zeitgenössische Kunst aus einer Ostschweizer Sammlung» zu sehen. Die Ausstellung präsentiert in einer eigens für die 10 Kabinette des Kunstmuseums komponierten Show eine hervorragende Sammlung zeitgenössischer Kunst aus den Jahren ab 1970, die in über 40 Jahren von der Galeristin und Sammlerin Wilma Lock zusammengetragen wurde. Wilma Locks Galerie gibt es nicht mehr. Aber ihre Galerie an der Schmidgasse in St.Gallen bildete gemeinsam mit der – ebenfalls nicht mehr bestehenden – Erker Galerie der beiden Sammler Franz Larese und Jürg Janett wegen den dort gezeigten Werken starke Anziehung auf Sammler und Künstler aus dem In- und Ausland.
Mein Lieblingsbild von Woods Bilderreihe von den Abfallsäcken ist eindeutig jenes von „Woche 38″mit dem durchsichtigen grünen Plastiksack, in dem entsorgte grosse Dias zu sehen sind. Waren es vielleicht Dias von den anderen Abfallsäcken, die da entsorgt wurden? Ausschussware? Es tut weh, diese Diapositive zu sehen, die mit anderen Abfällen in einer Mülltonne landen werden. Weshalb wurden sie entsorgt? Was wäre auf ihnen zu sehen gewesen? Weshalb hat sich die Fotografin dazu entschlossen Bilder, die sie gemacht hat, wegzuwerfen?
52 Bilder von Abfallsäcken hat Kelly Wood gemacht. Jede Woche ein Bild. Oder vielleicht für jede Woche ein Bild. Sie bilden im Kunstmuseum Appenzell einen farbigen Fries. Die Künstlerin hat das Projekt während f fünf Jahren durchziehen wollen. Ob sie drangeblieben ist, weiss ich nicht. Jedes Jahr hätte einen Zyklus bilden sollen. Ich kenne das: man hat sich ein fotografisches Thema vorgenommen, klammert sich dran, sieht an jeder Ecke und an jedem Tag weitere zum Thema passende Fotomotive, zweifelt manchmal an der Richtigkeit der eigenen Idee und bleibt dann doch dran, wenn auch stockend. Ich selber fotografiere seit mehreren Jahren verlorengegangene, liegen gebliebene Handschuhe. Abfallsäcke sind mir zu wenig ästhetisch, riechen mir zu fest. Dabei sind die Fotos von Kelly Wood reizvoll und bunter als meine Handschuhe. «Der fotografische Durchblick auf den Abfall zeigt, dass er zu unserem Leben gehört, so wie er zur Kunst gehören kann», schreibt Gerhard Mack in der Zeitschrift KUNSTFORUM International. Und Kelly Wood ist nicht die einzige Künstlerin, die aus Abfall Kunst macht. Das ist Kunst. Und das muss nicht weg.
Eingeworfen am 1.2.2022
Bild 38: Kelly Wood, Year Two, Continuous Garbage project, 1999 (1998-2003), C-Print, 51 x 41 cm. Courtesy Kelly Wood und Kunstmuseum Appenzell
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