Thomas Krempkes Doppelbilder

Ein Doppelbild aus dem geplanten Buch. Ein Mann und die Umgebung, in der er lebt.

Autor: Michael Guggenheimer

Ursprünglich wollte Fotograf Thomas Krempke nach Japan reisen. Ein Buch hat seinen Plan verändert. Jetzt ist er an der Planung eines Fotobuchs über Albanien.

«Das Flüstern der Dinge» lautet der Titel eines 600 Seiten Buches in der Edition Patrick Frey. Und im Untertitel heisst es «Aus dem fotografischen Tagebuch von Thomas Krempke. 2008 – 2016». Im Jahr 2017 ist die deutsche Fassung erschienen, zwei Jahre später die englische Version. Ein wunderbares Buch, das die Schweizer Feuilletons übersehen haben. Bilder aus dem Alltag des Zürcher Fotografen begleitet von kurzen – manchmal sehr poetischen persönlichen – Texten über seine Arbeit und Reflexionen über Fotos und Fotografie. Derzeit arbeitet Fotograf Thomas Krempke an einem neuen Buch. Die ersten Bilder sind bis 6. Februar in der Galerie Kriens (LU) zu sehen. Wer die Ausstellung verpasst, der kann Krempkes Bilderprojekt im 957 Independent Art Magazine kennenlernen. «Enderr! – oder der Versuch Albaner zu werden» heisst das Projekt laut Magazin. «Es regnet in Tirana» lautet der Titel der Ausstellung.

Albanien, ein etwas unerwartetes Projekt. Eigentlich hatte Fotograf Krempke nämlich vor, nach Japan zu fliegen. Doch die Lektüre eines Textes des polnischen Schriftstellers Andrzej Stasiuk über Albanien änderte seine Pläne: «Das kleine Land im Balkan schien mir fremder und aufregender», heisst es im Magazin _957. Albanien: fremd und doch so nah. Europäisch und doch so fern. Ein Vorhaben mit Stockungen: nach einer ersten Reise bedurfte es mehrerer Anläufe. Eine Erkrankung kam zuerst dazwischen. Dann ein Erdbeben und zuletzt die Pandemie. Dennoch weilte Krempke bereits mehrere Male in Albanien. Und im Frühling dieses Jahres geht es weiter, dann kommt die nächste Fotoetappe hinzu. In der Zwischenzeit lernt Krempke – per Zoom mit einer Sprachlehrerin in Albanien verbunden – Albanisch. Lesen in der so fremden Sprache geht schon gut, Unterhaltungen stocken noch etwas. Hauptsache aber: die ersten Aufenthalte haben schon eine Menge Fotogeschichten ergeben.

Thomas Krempke, der vor seiner Ausbildung zum Fotograf mehrere Semester Germanistik und Romanistik studiert hat, ist ein passionierter Leser und Erzähler. Er fotografiert in Albanien Menschen, Häuser, Felder, Landschaften. Unterwegs zu Fuss und mit dem Auto hält er häufig an, spricht Passanten an. Etwa auf einem Feldweg eine Frau, die mit ihrer einzigen Kuh unterwegs ist. Oder er spricht im Flugzeug einen Mitreisenden an, von dem er meint, dass er ein Waffenhändler sein könnte und der sich als Entwickler komplexer medizinischer Geräte entpuppt, der in den USA seine Geräte präsentiert hat.  Fotograf Krempke lässt sich von Einheimischen einladen, fotografiert seine Gesprächspartner und fügt jedem seiner porträtierten Personen ein Bild hinzu, entwickelt ein Diptychon nach dem anderen und zeigt erste Doppelbilder in seiner Ausstellung in Kriens.

Nicht wenige Fotografen präsentieren ihre Bilder am liebsten textfrei. Ein Titel höchstens und eine Jahreszahl. Mehr nicht. Krempke ging in seinem Buch «Das Flüstern der Dinge» bewusst anders vor. Da gibt es Bilder, die für sich sprechen, keines Textes bedürfen. Andere aber bilden gerade wegen der sie begleitenden Texte Spannungsbögen, wirken umso poetischer. Ein einführender Text im Magazin _957 lässt erahnen, dass es weitere Texte zu Albanien als Bildbegleiter geben wird, so schön ist nämlich der einführende Text. «Als ich zum ersten Mal nach Albanien reiste, regnete es in Tirana, nein, es schüttete, es strömte, es floss. Wir mussten über eine halbe Stunde im Flugzeug warten, ich starrte in den Regen, wollte einen ersten Blick erhaschen, doch man konnte kaum die Flügelspitzen  erkennen, Albanien war nicht zu sehen». Die allererste Aufnahme, die er von Albanien macht, hat er in sein Tagebuch als Eröffnungsbild eingeklebt. Was man sieht? Es regnet in Albanien. Krempke ist ein Tagebuchschreiber. Mit blauem Tintenroller hält er seine Beobachtungen und Empfindungen von Hand fest. Und zwischen den Einträgen klebt er erste Prints ein. Das war schon beim dicken Buch so.

Die albanischen Bildpaare hängen an Kopfhöhe in der Galerie Kriens mit Wäscheklammern an Wäscheleinen. Man geht den Wäscheleinen entlang, liest auf einer gelben Warntafel in Albanisch die beiden Begriffe KUJDES KOKËN! Und ahnt, dass sie wohl ACHTUNG KOPF! heissen könnten. Da ist das Bild eines sonntäglich gekleideten älteren Herrn zu sehen. Gestreiftes weisses Hemd, schwarze Krawatte, Sakko und Hut. Und auf dem Revers eine rote Kokarde mit dem Bild Enver Hoxhas, des einstigen Diktators Albaniens. Es ist Hoxhas Geburtstag und der Veteran zeigt sich auf der Strasse. Ergänzend dazu das Bild eines Trottoirs voller Vasen, alle gefüllt mit Papierblumen. Und hinter ihnen und nebenan eindeutig ein Bunker. Man sieht die Bilderkombination und erinnert sich an Jan Myrdals berühmtes Albanienbuch aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, in dem das bunkerreichste Land Europas geschildert wurde. Kempke legt eine Bildergeschichte an, noch fehlt der passende Text.

Ein Doppelbild aus dem geplanten Buch. Eine Frau, ihre Kuh und die Wohnumgebung, in der sie lebt

Oder ein anderes Bilderpaar: Eine etwa 50jährige Frau auf einem Feldweg. Schwarze Jacke, schwarze Hosen, abgetragene hellbraune Schuhe. Nebenan ein Bach und weiter hinten zwei Kühe, sie heissen Erna und Mara. Krempke versichert, es seien ihre Kühe. Im Hintergrund werden zwei Wohnsilos hochgezogen und im Begleitbild moderne hohe Wohnbauten, vor ihnen ein Minarett, eine weisse Moschee. Es sind diese Gegensätze, die den Fotografen faszinieren. Die verblüffende Nähe von so Verschiedenem regt den Fotografen an. Und diese so nahe Nachbarschaft will er auf seinen Fotografien zeigen. Tirana mit ihren vielen Neubauten, eine Stadt mit einfachen Stallungen und Viehweiden, wo Moderne und Vergangenheit nahtlos und dicht ineinander übergehen. Die Enthüllungsjournalistin, die fast einem Attentat zum Opfer gefallen ist und daneben das Bild einer menschenleeren Allee als Zeichen für ihre Einsamkeit? Oder das Bild von dem Entwickler von Medizinalgeräten, der eben aus den USA zurückkam. Neben und zwischen den modernen Wohnhäusern in seinem Quartier grasen die Kühe. Das ist Tirana, die ländlich-urbane, modern-rurale Kapitale. Krempkes Doppelbilder als eine Art Poesie: Durch die Zusammenführung von zwei Inhalten entsteht ein dritter, kommt eine Geschichte zustande. Je zwei Bilder haben eine je eigene Stimmung und es entsteht durch ihre Zusammenfügung in der Ausstellung oder im geplanten Buchetwas Neues.

Was Krempke an Albanien fasziniert? «Das Land war jahrzehntelang zu. Die Widersprüche der schnellen Entwicklung nach der Öffnung, die explosionsartige Entwicklung des Landes, das eigenartige Verhältnis zur Vergangenheit. Die isolierte Sprache als Faszinosum, die Tatsache, dass mehr Albaner ausserhalb Albaniens leben als in Albanien. Albanien ist ein sehr bergiges Land, die Berge verursachten lange eine ähnliche Geschlossenheit wie diejenige der Schweiz. Und auch hier ist die sprachliche Identität so wichtig, sagt der Fotograf.

Die Ausstellung «Es regnet in Tirana» in der Galerie Kriens bis zum 6. Februar. www.galerie-kriens.ch. Das 957 Independent Art Magazine Ausgabe 119 bei www.957.ch

Eingeworfen am 25.1.2022

1 Kommentar

  1. Danke für diesen schönen Text, der mich gleich gluschtig gemacht hat, nach Kriens zu fahren und mir die die Ausstellung anzuschauen!

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