Silser Familienfotografien

Autorin Barbara Liebster hat Silser Familien porträtiert, die bis ca. 1960 zugezogen sind. Als Grundlage dienten ihr Bilder aus Fotoalben der Dorfbevölkerung.

Fragt man Bekannte, was ihnen zu Sils Maria im Engadin einfalle, wird zuerst das von weitem sichtbare schlossartige Hotel Waldhaus erwähnt, das über der Ortschaft thront. Dann folgt immer wieder Nietzsche, sein Zarathustra und der Felsen. Gefolgt manchmal vom Namen der französischen Schauspielerin Juliette Binoche. Und immer werden die Landschaft, die Weite, das besondere Licht und die Engadiner Seen erwähnt. Fotofreaks nennen noch den Namen Albert Steiner, den Fotografen, der die Landschaft in wunderbaren Schwarzweiss-Bildern festgehalten hat. Man hat von berühmten Gästen des Hotels schon gehört, man weiss, der Ort ist nicht billig, Leserinnen und Lesern der Neuen Zürcher Zeitung fallen noch die kleinen Inserate ein, die regelmässig für das Kulturprogramm des Hotels werben.

Spätestens seit Daniela Kuhns Buch «Zwischen Stall und Hotel» sind noch Gesichter und Namen von einheimischen Bewohnerinnen und Bewohnern von Sils Maria bekannt geworden. Man erinnert sich: Der gelernte Hochbauzeichner bewirtschaftet den letzten Kuhstall im Dorf, die einstige Hotelbesitzerin hat als Kind mit Anne Frank gespielt, der ehemalige Pistenchef ist 840 Mal mit dem Kanadierschlitten ausgerückt: Fünfzehn Personen, die in Sils i.E. /Segl aufgewachsen sind und dort ihr Leben verbracht haben, haben Daniela Kuhn Geschichten aus einem vergangenen Sils erzählt und erlauben einen untouristischen Blick hinter die Kulissen des Dorfes.

Seit kurzem gesellen sich zu den von Autorin Kuhn vorgestellten Einheimischen weitere Personen, präsentiert im opulenten Bildband «Silser Familienfotografien – Ein Buch für die Menschen von Sils und ihre Gäste». Vornehm sieht das Buch aus, das in einem Schuber geliefert wird. Barbara Liebster, Hörspielregisseurin, Dramaturgin, freischaffende Regisseurin, Ausstellungsmacherin und Dozentin an der Zürcher Hochschule der Künste, hat zuerst eine Fotoausstellung im Sils Museum zusammengestellt, aus welcher der Bildband entstanden ist. Die Bilder sind über einen Zeitraum von fast 140 Jahren entstanden. Es sind Fotos von Bewohnerinnen und Bewohnern von Sils Maria: 37 Familien und hunderte von Personen sind da zu sehen. Leute in Arbeitskleidung, im Festgewand, Bergbauern, Bergführer, Skilehrer, Eisstecher, Fuhrleute, Wegmacher, Auswanderer, Gutsbesitzer, Patissiers. Hirten, Handwerker, Hoteliers heisst es irgendwo im Buch. Zu sehen sind Aufnahmen professioneller Fotografen als auch Fotos, die von Verwandten, Freunden, Gästen, Amateuren gemacht wurden.

Die Reihenfolge der Vorgestellten ist alphabetisch und reicht vom Familiennamen Adank bis Zuan. Es sind Bilder aus privaten Fotoalben, aus Schachteln gefüllt mit Bildern, auf denen Wohnräume, Häuser und stets Menschen an der Arbeit oder in ihrem Alltag zu sehen sind. Ganze Familien haben sich vor professionellen Fotografen und Amateuren hingestellt: Vorne die Alten, zu ihren Füssen die kleinen Kinder, hinter der Reihe der Sitzenden stehend die mittlere Generation. Der Bauer auf seinem neuen Traktor, ein anderer unterwegs mit einer Kuh, manche zeigen sich im schnellen Personenwagen. Andere posieren vor dem eigenen Haus oder in gemalten Landschaften früher Fotostudios, andere beim Wandern. Und ganz gross doppelseitig die Hotelierfamilie Kienberger vom Waldhaus.

Die Fotografie der Schüler der Gesamtschule Sils vom Jahr 1863 ist das älteste datierte Bild im Buch, dessen Texte und Bildlegenden alle zweisprachig in Deutsch und Rätoromanisch gehalten sind. Barbara Liebster hat in Gesprächen Familiengeschichten und Anekdoten gesammelt, die die Bilder begleiten. Die Bilder reichen von den ersten bei den Familien vorhandenen Fotos und enden bei solchen, die in den letzten Jahren oder noch eigens für das Buch aufgenommen wurden. Beim Lesen staunt man über die weit verzweigten Lebensorte der Weggezogenen und Zugewanderten. Sie reichen von New York bis Reggio-Emilia, von Livorno bis Stettin, St. Petersburg und von Lemberg bis nach Kairo. Menschen aus dem Engadin haben ihr Glück als Hoteliers, Köche, Bäcker und Confiseure im Ausland gesucht, manche sind wieder zurückgekommen, haben im Engadin ein Hotel eröffnet.

Christian Klucker in seinem Haus, wo sich auch das Postbüro befand.

Befragt wie es zu diesem Bildband kam, berichtet Verleger Stephan Witschi, er ist Barbara Liebsters Ehemann, von einer Tischrunde in Sils Maria, an der die Rede auf eine alte Fotografie kam, auf der Eisstecher auf dem vereisten nahen See zu sehen sind. Das Bild war Auslöser einer Ausstellung von Familienfotos im Ortsmuseum, an der der Wunsch aufkam, Bilder von jenem Sils Maria in einem Buch zu sehen, das nicht von den Gästen aus aller Welt geprägt wird. «Man spricht in Sils häufig von den berühmten Gästen, von den Einheimischen ist selten die Rede», erzählt Stephan Witschi. An einer Abstimmung hat die Gemeindeversammlung ohne Gegenstimme den Kredit für die Erarbeitung der Fotos und für den Bildband gesprochen. Demnächst soll noch ein Silser Geschichtsbuch mit dem Titel „Sils im Engadin – ein Porträt“ erscheinen, dann sind in Sils und in Zürich je eine Doppel-Bücherpremiere beider Bände vorgesehen.

Beide Bilder aus dem erwähnten Buch «Silser Familienfotografien. Ein Buch für die Menschen von Sils und ihre Gäste». «Fotografias da famiglias segliuottas. Un cudesch per indigens e giasts», erschienen bei der Edition Stephan Witschi, Zürich, ISBN 978-3-906191-13-3. Daniela Kuhns Buch «Zwischen Stall und Hotel» ist im Limmat Verlag, Zürich, erschienen. 978-3-85791-654-0

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