Zwei meiner Lieblingsgassen in Zürich sind der Neumarkt und seine Verlängerung der Rindermarkt. Ich bleibe regelmässig vor den immer selben Schaufenstern stehen. Ein Schmuckatelier, ein Herrenhutladen, ein Silber- und Goldschmiedeatelier, eine Reisebuchhandlung und ein Kleider- und Möbelladen. Dieser Tage wieder vor den beiden hohen Schaufenstern dieses Kleider- und Möbelladens stehen geblieben. Es waren nicht die Mäntel und Jacken, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen sondern ein Ansichtskarengestell an der Seitenwand des einen Fensters. Darin schwarzweisse Fotografien, eindeutig aus New York, nicht in den letzten zwei oder fünf Jahren aufgenommen. Der erste Gedanke war, es müssten Bilder von Robert Frank sein. Dafür sprach auch ein altes Heft der Kulturzeitschrift DU im Schaufenster über den aus Zürich stammenden Fotografen Frank.
Während ich dastand und andere Fotos im Schaufenster betrachtete, schloss ein älterer Herr die Ladentür auf und lud mich ein, den Laden zu betreten. Ja, die Fotos stammen aus New York. Ja, der Mann hat sie fotografiert. Ja, er habe Robert Frank gut gekannt, Freunde seien sie gewesen. Er habe im Haus von Robert Frank gewohnt, eine Zeitlang sogar das Haus gehütet. Einmal habe er die Wände in Franks Wohnzimmer fotografiert und diese Fotos vergrössert und plakatgross aufziehen lassen. Und ja, er verkaufe auch Fotografien verschiedener Fotografen. Je länger wir uns unterhallten, umso mehr stellt sich heraus, dass wir uns für dieselben Fotografen interessieren. Namen von Fotografen und von Autoren, von Fotomuseen und Kuratoren fallen. Im Laden stehen Möbel, die mein Gesprächspartner entworfen hat, wir tauschen die Namen unserer Instagram Accounts aus, Max Bloch, mein Gesprächspartner und gemeinsam mit einer Künstlerin und Kleiderdesignerin Besitzer des Ladens. Es stellt sich heraus, dass er regelmässig zwischen Zürich, Paris und New York pendelt, er kennt die Museen der drei Städte sehr genau und hat dezidierte Meinungen zu Themen wie Museumsarchitektur, Ausstellungspolitik und insbesondere auch zur Sammlung Bührle im Kunsthaus Zürich.
Es fallen im Gespräch Namen von Fotografen, deren Bilder wir kennen. Und bei einem Namen muss ich passen. Ich kenne den Fotografen nicht, habe seinen Namen noch nie gehört. «Was, Sie kennen den Fotografen Bruce Davidson nicht?». Max Bloch staunt . Er verschwindet kurz hinter einem Paravent und kommt mit einem DU-Heft aus dem Jahr 1969, das er mir gleich als Geschenk übergibt. «New York – 100th Street» lautet das Thema dieses über 50 Jahre alten Heftes, das den Bildern des amerikanischen Fotografen Bruce Davidson gewidmet ist. Welch’ erstaunliches Zusammentreffen. Ich lese gerade Uwe Johnsons vierbändigen Roman «Jahrestage», der in den Jahren 1967 und 1968 spielt. Hauptschauplatz ist New York, wo der deutsche Autor Johnson gerade zu jener Zeit lebt, als Bruce Davidson im Stadtteil Harlem mit seiner Kamera unterwegs ist. Harlem kommt in Johnsons Roman über das Leben der Bankangestellten Gesine Cresspahl in New York vor. Doch weder Johnson noch seine Romanfigur lebten in jener Armut, die in den Bildern Davidson vorkommen. Beide, Fotograf und Schriftsteller, waren Gegner des amerikanischen Militäreinsatzes in Vietnam. Bei Johnson kommt dieser Krieg immer wieder vor, Bruce Davidson erwähnt ihn in seinem Begleittext zu den Bildern.
Ich blättere durch das DU Heft mit den Fotos von der East 110th Street. Manche Heftseiten können aufgeklappt werden, grosszügig ist die Bebilderung. Fast alle Menschen, die Davidson fotografiert hat, sind schwarz. Die alten Backsteinhäuser sind heruntergekommen. Auf manchen Strassen liegen Abfall und Bauschutt. Die Ausstattung der Wohnungen ist ärmlich, manche Zimmer sind so klein, dass da bloss ein Bett Platz findet, mehr nicht. Und zwischendurch sind adrett sonntäglich gekleidete Kinder zu sehen. Ob sie unterwegs zum Gottesdienst sind? Schöne ausdrucksvolle Gesichter, die häufig traurig wirken.
In den fünfzig Jahren, die seit Davidsons Besuch in Harlem vergangen sind, hat die 110. Strasse ihr Gesicht radikal verändert. Andere Menschen sind hinzugezogen, viele der Häuser wurden radikal saniert. Hier hat eine Gentrifizierung stattgefunden. Davidsons Bilder sind mittlerweile historische Dokumente. Und sie erinnern in ihrem dokumentarischen Charakter an die Bilder, die Robert Frank für seinen Bildband «The Americans» wenige Jahre zuvor aufgenommen hat. Davidson war kein Strassenfotograf, kein Reporter. Die Menschen, die auf seinen Bildern zu sehen sind, wussten, dass er sie aufnimmt. Und er beschreibt im Begleittext, wie sie ihn um Bildkopien gebeten haben, auf denen sie zu sehen sind. Sie sitzen in ihren kargen Wohnzimmern, sie machen Musik in der Küche oder im Schlafzimmer, sie liegen auf ihren Betten, manche nur teilweise bekleidet, sie stehen auf einem Balkon oder hinter dem Fenster und schauen ihn an. Eine Frau ist in die leere Badewanne gestiegen und schaut ihn an, als würde sie den Fotografen aus einem vorbeifahrenden Auto anschauen. Mehrmals schaut John F. Kennedy aus einem Bilderrahmen, ein anderes Mal ist’s eine Heilige. Über einem Sofa hängt eine umgekehrt angepinnte Fahne der USA. Und in einem der Häuser steht in einem Lokal eine grosse Jukebox, sie ist gerade an, denn ein Paar tanzt zu den Klängen der Musik.
«Die Bewohner der East 110th Street sind nicht reich an Dingen, sodnern an Menschen», erläutert Bruce Davidson im Heft. «Ich versuche nicht, das Ghetto zu verherrlichen. In mancher Hinsicht ist es ein schrecklicher Ort, voller Not und Pein. Ich bin in keiner Weise reich, aber im Vergleich zu diesen Menschen bin ich es. Ich habe warmes Wasser. Ich muss nicht fünfzehn Kinder ernähren. Mein Leben, meine Arbeit sind voller Möglichkeiten». Im Editorial, das die Du-Redaktion verfasst hat steht: «Warum wurden den Aufnahmen keine Legenden beigegeben? Weil die Titel, mit denen der Photograph seine Bilder versehen hat, nicht mehr besagen, als was der Betrachter von selber dazu einfällt. Warum erscheint der Bildbericht ohne redaktionellen Kommentar? Weil jede Ausdeutung, und wäre sie noch so wohlmeinend, die Absichten des Photographen verfälschen müsste. Es lag Bruce Davidson daran, das Leben in einer beliebigen Strasse des «schwarzen» New York ohne Voreingenommenheit zu schildern. Also nicht als eiliger Reporter, der aus dem Hinterhalt ein paar effektvolle Aufnahmen schiesst, sondern als einer, der von den Bewohnern der Hundertsten Strasse während vieler Monate als täglicher Gast gesehen und akzeptiert wurde».
Danke MaxBloch Architect MaxBloch ArtFurniture MaxBloch Photographer MaxBloch NewYork Paris Zürich für die Entdeckung von Bruce Davidson!
Magnum-Fotograf Bruce Davidson ist 1933 geboren worden. Seine Bilder fotografierte er mit einer Leica. Die beiden Fotografien stammen aus dem erwähnten Du-Heft aus dem Jahr 1969
Eingeworfen am 08.12.2021
Guten Abend,
Vielen Dank für diesen wunderbaren Artikel.
Es freut mich sehr.