Zweimal die Woche. So hatte ich es mir vorgenommen: Zweimal die Woche einen Blogbeitrag auf filmeinwurf.ch schreiben. Beiträge zu Fotografen, zu Kameras, zu Fotografien. Themen, auf die ich zufällig stosse, meine Liebe zur Fotografie in Sprache fassen. Über 160 Beiträge sind bis jetzt entstanden. Und jedes Mal von zwei Fotografien begleitet. Die meisten Fotos habe ich aufgenommen, nur wenige aus einem Katalog oder aus einem Buch oder aus dem Netz benutzt.
Und auf einmal stockt mein Unternehmen. Im November ein einziger Beitrag. Nebenher habe ich in den letzten Monaten zwar jeden Abend auf Instagram ein Bild platziert. Und das immer starr am Thema entlang: Eine alte Kamera, eine Fotografin, ein Fotograf an der Arbeit, Ansichten von Fotoläden. Immer am Thema Fotografie entlang.
Im Herbst waren wir drei Wochen lang im Norden Deutschlands in Mecklenburg-Vorpommern unterwegs. Zehn Tage lang mit einem Mietwagen, zehn weitere Tage mit Bahn und Bus und viel zu Fuss. Ich habe in dieser Zeit viel fotografiert. Sehr viel. Landschaftsbilder. Dabei bin ich eigentlich kein Landschaftsfotograf. Meine Bilder entstehen eher in Städten. Häuser, Kirchen, Geschäftstafeln. Dieses so dünn besiedelte Land hat es mir angetan. Grosse Felder, die unendliche Weite. Und schöne alte Städte. Nähert man sich in Mecklenburg-Vorpommern einer Stadt, sieht man von weitem schon ihre Kirchentürme. Es ist so wie auf alten niederländischen Stadtansichten. Die grossen Kirchen, die Backsteingotik: Ich mag sie sehr. Schwerin, Stralsund, Greifswald, Güstrow, Wismar, Rostock, Waren. Und da wäre noch die Stadt Neubrandenburg, die ich verpasst habe. Die Nähe zur Ostsee, der mir wenig vertraute Norden Deutschlands und der Schriftsteller Uwe Johnson waren die drei Gründe, die Region aufzusuchen. Ein Blogbeitrag ist sogar in Mecklenburg- Vorpommern entstanden. Aber dann kam die grosse Blogstille. Ich kenne den Grund.
Über dreissig Jahre nachdem ich die drei ersten Bände von Uwe Johnson grossem Roman «Jahrestage» gelesen habe, ist mir sein Roman über Gesine Cresspahls Leben wieder begegnet. Ich bin während den Wochen im Norden Deutschlands zweimal in Güstrow gewesen. Eine kleine Stadt mit einem wunderbaren Rathausplatz, mit einem Dom, mit einer Kapelle mit Werken von Ernst Barlach. Ich stand vor der Schule, in der Johnson Schüler war, ich suchte die Uwe Johnson Bibliothek auf, ich kaufte zwei kleine Bücher über Johnson und seine Stadt Güstrow und die Landschaften Johnsons. Zurückgekehrt habe ich den ersten Band von Johnsons Jahrestagen aus dem Bücherregal im Keller geholt. Und jetzt sitze ich fest: Johnson hat mich wieder, ich folge den Geschichten von Gesine Cresspahl, die mit ihrer Tochter Marie in New York lebt. Ein Roman, der in Jerichow, einer erfundenen Stadt in Mecklenburg-Vorpommern, in London und in New York spielt. Ein Roman, der in den 30er Jahren in Deutschland und in den Jahren 1967 und 1968 in den Vereinigten Staaten spielt. Und zwischendurch kommen da Passagen vor aus England im Jahr 1933.
Ich lese und lese. Ich blättre im nicht minder faszinierenden Buch «Kleines Adressbuch fürJerichow und New York. Ein Register zu Uwe Johnsons Roman Jahrestage». Ich, der ich kein Kunde von der Krake Amazon bin, habe über Amazon ein fast dreissig Jahre altes Heft der Kulturzeitschrift DU zum Thema «Uwe Johnson. Jahrestage in Mecklenburg» bestellt. Ich bin in Zürich am Arbeitstisch oder am Esszimmertisch am lesen. Ich bin hier und mit dem Kopf im Norden. Und ich staune über die Bedeutung der Fotografie in Johnsons Büchern. Auf den ersten 200 Seiten kommt Fotografie über 30 Mal vor! Also bin ich doch wieder bei der Fotografie, um die es in diesem Blog geht. Und ich bin bei einem anderen Thema, das zu Johnsons Leben und zu meiner Biografie gehört. Ein Thema, das ihn und mich beschäftigt. Die Zerrissenheit zwischen mehreren Ländern.
Seit Beginn der Re-Lektüre von Johnsons Jahrestagen frage ich mich immer wieder: Wie konnte ich vergessen, dass die Fotografie ein immer wiederkehrendes Motiv in Johnsons Werk ist? Hinten im ersten Band meiner Ausgabe des ersrten bands von jahrestagen ist ein Zettel am Buchdeckel angeklebt. Und auf ihm stehen Seitenzahlen: Es sind Seiten, auf denen Fotografie und Fotografen, Fotokameras und Ansichtskarten vorkommen. Kaum zu glauben, dass ich vor über dreissig Jahren bereits dem Thema Fotografie in der Literatur so verfallen war. Ich war’s und hab’s vergessen. Ich lese den ersten Band wieder, bedaure, dass die kritische Ausgabe von Johnsons Romanen erst in 22 Jahren abgeschlossen sein wird.
Wie gerne würde ich die Jahrestage in der kommentierten «Rostocker Ausgabe» lesen. Aber eben, noch ist es nicht so weit, sind erst zwei frühere Romane Johnsons in dieser Edition erschienen. Jetzt ist mir klar: Ich komme aus emotionalen Gründen nicht dazu, mich mit Fotothemen zu beschäftigen. Die Faszination, die Johnsons Roman auf mich ausübt, steht im Vordergrund, hindert mich daran, mich für Fotografen, Fotoausstellungen, Fotopublikationen offen zu sein. Und ich gebe mich den Landschaften und Städten hin, die Johnson so wunderbar beschreibt. Und ich erinnere mich, dass ich New York zuerst über Uwe Johnsons Gesine Cresspahl kennengelernt habe. Und ich erinnere mich daran, dass ich bei meinen Besuchen in New York bei jedem Zeitungsstand an Johnsons Romanfigur dachte, der intensiv New York Times lesenden Mitarbeiterin einer New Yorker Bank, die in Jerichow in Mecklenburg aufgewachsen ist. Gesine und ich haben teilen diese Leidenschaft für Zeitungstexte, nur ist sie weitaus politischer als ich. Ich lese weiter, möchte wieder Johnsons Städte und Landschaften besuchen. Ich habe mir vorgenommen, wieder hinzufahren. Ich könnte die Jahrbücher der Uwe Johnson-Gesellschaft in Zürich lesen. In einer hiesigen Bibliothek oder sogar im Netz. Aber ich stelle mir das Blättern in diesen Bändern und die Lektüre in einer der alten Hansestädte sinnlicher, näher beim Werk vor.
«Das war heute am späten Nachmittag, als die Fähre schon halb zurückgelaufen war in den Hafen von New York. Marie war aufgerufen worden von einem Herrn aus Japan, der ihr mit ganz geschmeidigen Entschuldigungen seine Kamera in die >Hand gab, und Marie hatte ihn und seine Familie mit fachmännischen Anweisungen und Handzeichen zurechtgestellt vor den Türmen Manhattans, bevor sie die Schwingungen des Schiffbodens in weichen Knien auffing und den Besuchern den Beweis in die eigene Kamera drückte». (aus Jahrestage, 21. Oktober 1967).
Eingeworfen am 06.12.2021
Welch schöne Analyse – nicht nur der Blogblockade, sondern auch der Bedeutung der Fotografie in U.Js. Werk – letztere sogar doppelt vorgenommen und entdeckt, wie alt und beständig die Liebe zum Thema ist.