Im Film «Fabian oder Der Gang vor die Hunde» von Dominik Graf, der derzeit im Kino zu sehen ist, gibt es vor dem – nur im Roman existierenden – Berliner Café Spalteholz eine ungewöhnliche Sequenz mit lauter Leuten, die über Pfützen springen. «Pfützenspringer» als Motiv hat der berühmte Fotograf Henri Cartier Bresson fotografiert. Seine Fotografie «Pfützenspringer aus Paris» aus dem Jahr 1932 heißt im Original „Hinter dem Bahnhof Saint-Lazare“ und gehört zu den bekanntesten Bildern des Fotografen. Er kreierte den Begriff des „fruchtbaren Moments“. „L’instant décisif“, der „entscheidende Augenblick“ – nichts scheint die Fotografien von Henri Cartier-Bresson besser zu beschreiben als dieser von ihm selbst geprägte Begriff des alles entscheidenden Moments. Hätte er zum Beispiel nur eine Sekunde früher oder später auf den Auslöser gedrückt – würde das Foto, das er hinter dem Saint Lazare Bahnhof aufnahm, nicht mehr funktionieren.
Acht Jahre vor Cartier-Bresson hat bereits der Berliner Fotograf Friedrich Seidenstücker eine ganze Serie von Pfützenspringerinnen aufgenommen. Mit den Pfützenspringerszenen im Film «Fabian» zitiert Regisseur Graf gewissermassen Friedrich Seidenstücker, der zwischen den 1930ern und den 60ern Fotos von „Pfützenspringern“ in Berlin gemacht hat. Besonders gerne hat er bei Regenwetter an großen Pfützen Damen „aufgelauert“, die er dann beim Sprung über die Wasserfläche ablichtete – seine „Pfützenspringerinnen“ haben ihn bekannt gemacht. Seidenstücker war bekannt als Straßenphotograph, doch einen großen Teil seiner Arbeitszeit verbrachte er im Berliner Zoo, wo er die Tiere fotografierte.
Friedrich Seidenstücker war vor allem eines: ein Flaneur mit dem Finger am Auslöser, ein Alltagsbeobachter, der auf seinen Spaziergängen durch die Hauptstadt stets die entscheidenden Augenblicke erwartete. Geboren 1882, wollte er eigentlich Bildhauer werden. Er begann eine Ausbildung der Bildhauerei 1905 in Berlin und schloss sie erst nach mehreren Unterbrechungen 1923 ab. Erst als er etwa 1928 erkannte, dass er von der Bildhauerei nicht würde leben können, machte er aus seinem Hobby einen Beruf und wurde Fotograf.
Seidenstückers Schwarz-Weiß-Serie der Pfützenspringerinnen (zwei auf dieser Seite zu sehen) entstand durch Beobachtungen des Alltagslebens in der Großstadt, schrebt Sandra Hinterdorfer in ihrer Publikation „Jumping people. Zur Medienästhetik und Bildkultur der Momentaufnahme auf der Foto-Sharing-Plattform Flickr“ und sie zitiert Seidenstückers Freundin und Model Loni Hagelberg: „Er hatte seine ästhetische Freude an schlanken Mädchenbeinen». «Die moderne selbstbewusste Frau mit Hut und Handtasche», so Sandra Hinterdorfer, «wird in Aktion, im Schrittsprung über die Pfütze auf dem Höhepunkt der Bewegung festgehalten. Der Blick der Frau ist auf dem Boden gerichtet und zeugt von einer gewissen Konzentration, um nach dem Sprung den Gehsteig trocken zu erreichen. Die helle Kleidung steht im Kontrast zu den dunklen Bildbereichen. Eine Verdopplung des Frauenkörpers findet sich in der Pfütze wieder, diese Spiegelung stellt die Bedeutung des Wassers in den Vordergrund. Die spontane Momentaufnahme wirkt authentisch und hinterlässt einen dokumentarischen Eindruck. Die Anordnung der springenden Frau erfolgt im Bildzentrum der Fotografie. Seidenstücker schenkt den Rändern, des von ihm gewählten Ausschnitts, kaum gestalterische Beachtung, neben dem Hauptmotiv kommen so Nebensächlichkeiten und Details, wie Häuser, Pferdefuhrwerk oder Personen, ins Bild, die zusätzliche Informationen liefern».
In der breiten Öffentlichkeit bekannter als seine Pfützenspringerinnen sind Seidenstückers Tierbilder vom Berliner Zoo, die er in Zeitschriften veröffentlichen konnte. Er selbst schätzte nach eigenen Aussagen seine Tierfotos mehr. Dass so viele Bilder von Seidenstücker erhalten sind, ist einem glücklichen Zufall zu verdanken. 1971 entdeckte ein Sammler den penibel sortierten Nachlass des Fotografen im Fundus eines Berliner Trödlers, der ihn für 1500 Mark an das Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz verkaufte.
Zitate aus einer Publikation der Berlinischen Galerie – Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur (Hrsg.) / «Seidenstücker, Friedrich: Von Nilpferden und anderen Menschen. Fotografien 1925–1958. [anlässlich der Ausstellung Friedrich Seidenstücker. Von Nilpferden und anderen Menschen. Fotografien 1925–1958, Berlinische Galerie, Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und Architektur, 2011 / 2012]. Ostfildern: Hatje Cantz, 2011. Von dort auch die beiden Bilder.
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Die Szene aus Fabian ist mir nicht mehr in Erinnerung; und das Fotomotiv Pfützenspringer kannte ich nicht. Es wirkt wie eine Metapher für die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts: die Menschen in Eile und ständig neuen Hindernissen ausgesetzt, hüpfend, springend, taumelnd; dabei kamen manche ins Stolpern. Und nun mache ich mich auf die Suche nach Flaneur Seidenstücker.
Was da alles an Infos gehoben wird, müsste man Filmtiefenwurf nennen oder mit Kafka Blick in Schächte von Babylon.