Der aufmerksame Blick

Ein Bauer in Italien. Foto von Werner Gadliger

Autor: Michael Guggenheimer

Werner Gadliger war früher drei Jahre lang Helikopterfotograf. Nein, er hat nicht Hubschrauber fotografiert. Bei gutem Wetter flog er über Österreich, England und über die Schweiz an Bord eines Helikopters und fotografierte Häuser und Siedlungen. Die Bilder verkauften Vertreter einer auf solche Flugaufnahmen spezialisierten Firma an Hausbesitzer und Gemeindeverwaltungen. Zuvor arbeitete er als Fotograf für die Schweizerische Verkehrszentrale, der heutigen Schweiz Tourismus. Wie anders als jene Luftaufnahmen und touristische Bilder sind die Fotografien, die er in zahlreichen Ausstellungen gezeigt hat und die einem beim Durchblättern der Bücher begegnen, in denen Gadligers Werk als Fotograf zu sehen ist. «Im Atelier und unterwegs: Künstlerporträts» heisst ein Buch mit seinen Fotos, das im Benteli Verlag erschienen ist.

Gadligers Geduld, seine Fähigkeit zum aufmerksam-einfühlsamen Zuhören und Hinschauen ist in diesen Bildern spürbar. Wie Ethno-Psychoanalytiker Paul Parin den Fotografen anschaut, ist bewegend. Bildhauer Hans Josephson blickt den Fotografen skeptisch an, ist nicht bereit, seine Zigarre wegzulegen. Gadliger hat die wichtigen Künstlerinnen und Künstler der Schweiz der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts fotografiert. Und wie! Schriftsteller Hugo Loetscher, Plastiker HR Giger mit seinen stechenden Augen, Autorin und Performerin Aglaja Veteranyi oder Filmemacherin Reni Mertens werden mit vielen anderen in diesen Bildern präsent.

«Nebenschauplätze» lautet der Titel eines kürzlich erschienenen voluminösen Bands mit Fotos von Werner Gadliger aus 50 Jahren. Die Publikation dieser Sammlung hat der Fotohistoriker und Bildwissenschaftler Fritz Franz Vogel. Nebenschauplätze? Es sind keine Bilder von berühmten Plätzen, die «man gesehen haben muss». Weder Pyramiden noch Eiffelturm, weder die Kanäle Venedigs noch barocke Kirchen und Klöster sind auf diesen Fotos zu sehen. Es sind die Nebenschauplätze des Alltags, jene Strassen und Plätze, an denen sich das alltägliche Leben abspielt. Gadliger zeigt, dass jede Strasse, jedes Quartier, jeder Ort zu Entdeckungen führen und eine Sehenswürdigkeit werden kann. Nicht anders die Menschen, die in seinen Bildern zu sehen sind. Es sind Passanten, Bewohner dieser Strassen, keine Berühmtheiten, Menschen mit interessanten Gesichtern und Geschichten.

Rund 600 Fotografien weist das Buch «Nebenschauplätze» auf. Es sind keine Bilderserien, die Bilder sind nicht Auftragsbilder gewesen. Gadliger entzieht sich seit langem Aufträgen, ist seit vielen Jahren Künstler, freier Fotograf, der einzig seinen Interessen, seinen Themen gewissermassen entlang flaniert und fotografiert. Der Zufall spielt dem geduldigen Beobachter seine Bilder zu. Er fotografiert das, was ihn berührt und neugierig macht. Wie manche Schriftsteller hat er sein Geld mit einer anderen Tätigkeit verdient, sich so seine Freiheit als Fotograf, Radierer und Zeichner gesichert.

Aufschrift eines Lebensmittelgeschäfts in Italien

Die Anordnung der Bilder im Buch «Nebenschauplätze» überrascht zunächst, ja sie verwirrt sogar. Denn die Bilder sind weder chronologisch noch einzelnen Motiven folgend geordnet. Sie folgen vielmehr einer alphabetischen Reihung nach Aufnahmeorten. Was im ersten Moment irritiert, erweist sich beim Durchblättern als reizvoll. Es sind unerwartete grosse Sehreisen, denen man sich beim Durchblättern hingibt. Orte, Themen, Sujets und Jahren wirbeln durcheinander, erst langsam gibt die Fotosammlung ihre Geheimnisse preis: Man könnte das Buch auf einem Tisch oder Stehpult geöffnet hinlegen, an jedem Tagesbeginn oder gegen Abend eine Doppelseite aufschlagen und sich so alphabetisch von Bern nach Bilbao, von Budapest nach Buenos Aires, von Cannes nach Cordoba und weiter bis Zadar in Kroatien und Zürich an unerwartete Orte begeben.

Die einzelnen Fotos sind häufig Kern einer Geschichte, die man selber ergänzen kann. Das grosse Passagierschiff Cristoforo Colombo bei der Ausfahrt aus Venedig hat mich an meine erste Schiffspassage von Haifa nach Venedig erinnert, an die ich lange nicht mehr gedacht habe. Die alten Frauen auf einer schäbigen Holzbank irgendwo im Burgenland, hinter ihnen an einer Hausmauer ein grossformatiges Plakat für Damenunterwäsche erinnerten mich an den Schweizer Spielfilm «Die Herbstzeitlosen», in dem eine gewitzte ältere Dame ein Unterwäschegeschäft eröffnet und mit Erfolg führt. Zum Bild des alten Mannes, der in einem Hinterhof ein Hochrad schiebt, das er nie und nimmer besteigen könnte, fielen mir meine erfolglosen Versuche ein auf einem Einrad zu fahren, die ich schon längst vergessen hatte. Oder der Herr irgendwo in Frankreich, der frühmorgens sein Ladenlokal öffnet, sich umschaut, ob erste Kunden bereits im Anmarsch sind: Wie ich selber bang war, erste Kunden bedienen zu müssen, die ich in einem Buchladen beraten sollte.

Wohin blicken wohl die Männer, die von einem Parkplatz aus in die Tiefe schauen? Oder der elegant gekleidete Anzugträger mit der Zeitung unterm Arm: Was machen die Polizisten auf der anderen Strassenseite? Und weiss die junge Frau, die auf einem Balkon eines mit Sgraffiti bemalten Haus in Italien steht, dass sie in einem Kunstdenkmal lebt? Was hat es mit diesen Frauen auf sich, die hinter einem Vorhang stehen und von denen man nur die Hosenbeine sieht? Und hat der Mann, der einen schweren Kartoffelsack in einer Karre schiebt einen langen Weg?

Fotograf Werner Gadliger

Menschen stehen im Zentrum von Gadligers Bildern. Niemals entlarvend, immer liebevoll beobachtet. Gadliger hat eine Gabe, Situationen und Momente zu erkennen und festzuhalten, die besonders sind. «Die Bilder machen, die mir etwas bedeuten, ist mir wichtig», sagt er. In Santander in Spanien fotografiert er eine Hausfassade auf der anderen Strassenseite. Ein älteres Paar, er mit Gehstock, steht vor einer riesigen Reklamewand, auf der ein überdimensioniert grosser Mann mit schwarzem Hut einen Feldstecher hält und den Fotografen, das alte Paar und mich als Bildbetrachter im Buch anzuschauen scheint. So wie sich sein grosser Bildband zum tagtäglichen Weiterblättern eignet, so verleitet Gadligers Ansichtskartenserie «Bild des Monats», die von art-tv.ch herausgegeben wurde, dazu, jeden Monat einer Freundin oder einem Freund eine Fotogeschichte zu verschicken. Auch hier stehen Menschen in Situationen im Zentrum, die zu Geschichten führen können.

Man schaut die Bilder an und beginnt zu phantasieren. Gerade weil die Bilder keine erklärende Legenden aufweisen, kann man sich zu jedem seine eigene Geschichte zusammenreimen. Gadliger ist kein Fotojournalist, kein Reporter, seine Bilder hat er nicht für die Tageszeitung gemacht. Die einzige Information zu jedem der Bilder befindet sich in einer langen Liste von Ortschaften und Datumsangaben. Seine Bilder sind manchmal witzig, nie indiskret oder angriffig. Weite Reisen hat er unternommen. Man sieht Menschen und Szenen aus Uruguay, aus Bali, Indien, aus den USA, Spanien, Rumänien, Griechenland und Italien.

Nebenschauplätze, 480 Seiten, ca 600 sw- und Farbbilder
Herausgeber: Fritz Franz Vogel, ISBN 978-3-03858-516-9 . Zu beziehen auch direkt beim Fotografen unter der Mailadresse: tru173@bluewin.ch

Eingeworfen am 14.6.2021

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