Wie schön die Piazza Grande von Locarno sein kann! Fotograf Daniele Lupini aus Baden weiss es. Er hat sie mehrfach fotografiert. Auf seinen Fotos fällt das Gleis der Centovallibahn im Kopfsteinpflaster auf, ein Gleis, das seit Jahrzehnten keine Funktion mehr hat. Wo sonst im Winter eine Schlittschuhanlage steht und laute Musik zu hören ist, herrscht auf Lupini Fotos Menschenleere. Kein Moon&Stars – Rummel, keine 7000 Stühle vom Filmfestival. Wie mächtig der weite Platz mit Namen Plaine de Plainpalais in Genf wirken kann: Daniele Lupini hat es gesehen und fotografisch festgehalten: Kein Zirkuszelt, keine Verkaufsstände. Die beiden Plätze und weitere 22 sind in einem neuen Buch zu sehen. «Plötzlich diese Leere» heisst der Titel dieses Buchs, welches bei der Verlagsgenossenschaft St.Gallen erschienen ist. 24 Plätze, Strassenräume, Hallen, Promenaden in der Schweiz haben Lupini und sein Sohn Ben fotografiert. Die Halle des Zürcher Hauptbahnhofs menschenleer, vor dem Bahnhof von Lausanne eine einzige Person, der Sechseläutenplatz in Zürich vor der Oper ohne Passanten, zu Füssen des Vadian Denkmals am St.Galler Marktplatz kein Mensch zu sehen. Die beiden Fotografen haben nicht etwa morgens um 6 Uhr diese Orte fotografiert. Jedes Bild im Buch ist mit Aufnahmedatum und Uhrzeit dokumentiert: Die Promenade von Ascona um 12.08 Uhr, die Piazza Grande in Locarno vormittags um zwei Minuten vor elf Uhr, die Marktgasse von Solothurn um 17.41 Uhr.
«Welchen Sinn kann uns die unerwartete Leere geben – und ist diese Frage angebracht?» Diese Frage hat die St.Galler Künstlerin Gilgi Guggenheim – sie ist mit dem Autor dieser Zeilen nicht verwandt – 24 Personen gestellt. Mit der «unerwarteten Leere» sind Begleiterscheinungen des Lockdowns gemeint, der als Gegenmassnahme zur Covid 19-Pandemie im März 2020 über die Schweiz verhängt wurde: Keine Theateraufführungen, keine offenen Kinos, geschlossene Restaurants, leere Konzertsäle, ein stark reduziertes Verkehrsaufkommen auf den Strassen und eben eine bis zu dem Zeitpunkt unbekannte Leere des öffentlichen Raums.
24 Personen hat Gilgi Guggenheim aufgefordert, ihr einen Text einzusenden, der sich mit der Leere auseinandersetzt. Und noch bevor die Schreibenden ausgesucht waren und zum Schreiben ansetzen konnten, war Fotograf Lupini bereits zu seiner Schweizer Reise mit dem Auto auf der Suche nach der Leere aufgebrochen. Er fuhr kreuz und quer durchs Land. Dass seine Fotografien in Buchform erscheinen könnten, war ihm am 18. März 2020, dem Tag der ersten Aufnahmen, noch nicht klar.
Ein Gespräch mit seinem Freund, dem Unternehmensberater Adrian Krüsi setzte einen Prozess in Bewegung. Krüsi wiederum schilderte Gestalter Marcus Gossolt Lupinis Bilderprojekt, Gossolt wiederum erzählte seiner Ehefrau Gilgi Guggenheim davon. So entstand das gemeinsame Vorhaben der vier, das in einer Auflage von 6000 Exemplaren vorliegt. 4000 Bilder von der Leere haben Vater und Sohn Lupini gemacht, Material genug, um später, wenn der Lockdown längst vergessen sein sollte, die Zeit der Leere wieder in Erinnerung zu rufen. «Wir sind manchmal nachts um 3 Uhr mit dem Auto aufgebrochen, um zur Zeit in St.Moritz oder Bellinzona anzukommen», erzählt Daniele Lupini, der seinem Thema in allen Landesteilen der Schweiz nachgehen wollte.
Künstlerin Gilgi Guggenheim ist eine Spezialistin der Leere: In St.Gallen betreibt sie das «Museum of Emptiness». «Als begehbare architektonische Skulptur, mitten im urbanen Zentrum St.Gallens, lädt es dazu ein, sich vom Angebot der Fülle zu erholen, sich auf die Leere einzulassen und mit ihrer Thematik auseinanderzusetzen, oder sie schlicht zu erleben», heisst es auf der Homepage des Museums. Dazu Gilgi Guggenheim: «Unser städtisches Leben ist geprägt von der Fülle eines reichen Angebots. Wir sind darin geübt, Leere zu vermeiden. Ihre Erscheinung weckt das natürliche Bedürfnis, zu füllen. Umgekehrt gönnen wir uns aber innerhalb der Fülle die uns umgibt, wenig Leere». Gerade dazu passte das Vorhaben des Fotografen Lupini.
Daniele Lupini dürfte der erste Fotograf in der Schweiz gewesen sein, der der Leere des Lockdowns intensiv nachgegangen ist. Er ist nicht der einzige, den diese Aufgabe lockte. «Wir waren uns bewusst, dass das Thema auch andere reizen würde, solche Bilder zu machen», erzählt Lupini. „Confinement“ heissen denn auch zwei Fotoserien die etwas später im Sommer 2020 in La Chaux-de-Fonds zu sehen waren. „Confinement“ heisst Lockdown. Charlène Mamie und Aline Henchoz sind die beiden Fotografinnen, die in den Wochen des Lockdowns in ihrer Stadt die autofreien Strassen und Plätze fotografiert haben. Fotografin Mamie war tagsüber unterwegs, ihre Kollegin Henchoz nachts. In La Chaux-de-Fonds sind die plakatgrossen Fotografien im Stadtzentrum auf eigens zur Verfügung gestellten Plakatsäulen zu sehen gewesen. „Des rues vides en pleine journée, c‘est la possibilité de redécouvrir la ville sous un nouvel angle. Ni voitures, ni piétons. Une expérience unique: pour une photographe, le moment rêvé d‘immortaliser ces instants“, sagt Charlène Mamie.
Anders als die beiden Fotografinnen hat Lupini seine Bilder in Schwarzweiss aufgenommen, was ihnen eine grössere Stille verleiht. Alle Platzaufnahmen erfolgten mit einem 21 mm Weitwinkel-Objektiv. Keines der Bilder hat er im Photoshop bearbeitet. Verstärkt wird die Leere der Plätze und Strassen noch durch die Gestaltung des Buchs, die Marcus Gossolt besorgt hat: Dem ersten Wortessay zur Leere im Buch folgt eine leere weisse Doppelseite. Das Prinzip der leeren Doppelseiten setzt sich in Variationen durch das ganze Buch fort. Nach der leeren Doppelseite folgt eine Aufnahme eines leeren Platzes, zwischendurch folgen Bilder in hellgrünem Duplexdruck von Parkanlagen, Waldgrillplätzen von Autobahnstrecken und Autobahnrastplätzen, gewissermassen auswechselbare Orte des Übergangs, von denen man als Betrachter nicht weiss, nicht unbedingt wissen muss, wo sie aufgenommen wurden. Die Autorinnen und Autoren der Texte kannten fünf Bilder, die Lupini aufgenommen hatte, mussten aber in ihren Texten nicht auf die Bilder des Fotografen eingehen.
Mehrere Coronabücher sind im Gefolge der Pandemie erschienen. Bücher, in denen sich Autorinnen und Autoren mit ihrer Befindlichkeit als Folge von Covid 19 auseinandersetzen. «Plötzlich diese Leere» ist ein Buch, das i Text und Bild die Leere ins Zentrum setzt. Das letzte Bild zeigt einen See, hohe Berge rechts und links, im Vordergrund sitzt ein Mann, der in die Ferne blickt, einsam in der Stille des Lockdowns. Die hellgrüne Farbe der Duplexbilder erinnert an die Einweg-Hygienemasken der Spitäler, an jenes neue Objekt, an das wir uns im Gefolge der Pandemie als Passagiere im ÖV gewöhnt haben. Und so heisst denn auch der letzte grafisch gestaltete Platzhalter im Buch «Pantone 564C 13% Deckkraft» und weist die exakte Breite und Höhe jener Gesichtsmarken auf.
Plötzlich diese Leere, erschienen bei VGS Verlagsgenossenschaft St.Gallen, ist im Buchhandel erhältlich. (ISBN 978-3-7291-1187-5) / CHF / EUR 34.00 / http://www.vgs-sg.ch/ . Das Museum of Emptiness in St.Gallen: https://museumoe.com/
Eingeworfen am 29.4.2021
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