Der Schlauchhändler als Fotograf

Dass Josef Aregger (1902 -1996) im Entlebuch von Dorf zu Dorf, von einem Bauernhof zum nächsten, mit seinem Motorrad unterwegs war, daran erinnern sich noch manche betagte Dorfbewohner in Schüpfheim. Mit welcher Kamera er damals unterwegs war, weiss niemand mehr. Zwar besitzt das Museum im «Entlebucher Haus» in Schüpfheim eine ganze Sammlung von alten mechanischen Schreib- und Rechenmaschinen. Eine Plattenkamera findet sich unter den Sammlungsobjekten aber nicht. Josef Aregger war eigentlich Vertreter einer Schlauchweberei, der zudem später auch noch Viehhüte-Geräte und Zubehör vertrieb. Nebenbei war er auch noch Fotograf. Das Metier des Fotografen in einer Zeit, da der Fotograf noch mit Glasplatten, schwerer Boxkamera und Stativ unterwegs war, hatte er sich wahrscheinlich selber beigebracht. Jedenfalls ist nichts von einer Lehrzeit bei einem anderen Fotografen bekannt. Fotografen vom Land, oft Quereinsteiger, deckten bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts die Nachfrage der Dorfbevölkerung nach Porträts, Familien- und Gruppenbildern ab. Hunderte von Bewohnern des Entlebuchs im Kanton Luzern hat Josef Aregger fotografiert. Etwa 500 Foto-Glasplatten mit seinen Aufnahmen haben einen Hausbrand überlebt. Was heute fehlt, was es vielleicht auch nie gegeben hat, sind Bildlegenden oder ein Personenverzeichnis. 

Im Garten des Regionalmuseums «Entlebucherhaus» in Schüpfheim ist bis Mitte August 2021 eine rund 120 Fotografien umfassende Ausstellung mit Fotos zu sehen, die Josef Aregger gemacht hat. Das Museum hat hierfür die Glasnegative digitalisieren und auf Aluplatten drucken lassen. Für die Ausstellung wurden die Fotografien an Eisenstangen montiert und in halbkreisförmigen Nischen vor dem Museumsbau angeordnet. «Bitte helfen Sie uns, die Fotos mit Informationen zu ergänzen», steht da auf einer Box, in der Formulare zum Ausfüllen bereitliegen. «Kennen Sie eine Person, ein Haus, den Ort? Aus welchem Jahr stammt die Aufnahme. Können Sie uns eine spannende Geschichte erzählen?» Leicht wird die Suche nach Namen nicht sein, denn Josef Aregger, der im Entlebuch seiner Arbeit als Vertreter wegen unter dem Namen «Schluuch-Aregger» bekannt war, hat vor mehr als 70 Jahren zwischen 1925 und 1950 seine Aufnahmen gemacht.

Vor dem repräsentativen Museumsgebäude aus dem Jahr 1915 im oberen Dorfteil, das einst als Kinderasyl, später als Landwirtschaftsschule gedient hat, sind Areggers Bilder zu thematischen Gruppen vereint. Ein Aufnahmekonzept, wie es der Münchner Fotograf August Sander bei seinen Porträts gehabt hat, hat Josef Aregger nicht gehabt. Höchstens dieses: Keine der gezeigten Aufnahmen ist im Innern eines Hauses entstanden. Aregger hat seine Kamera vor dem Bauernhaus, am Waldrand, an der Strasse oder auf der Wiese aufgestellt. «Areggers Aufnahmen zeigen die ganze Bandbreite von Persönlichkeiten und Charakteren, vom Kleinkind bis zu älteren Menschen, mehrheitlich sind es jedoch Kinder und junge Erwachsene», heisst es in der Begleitdokumentation. Was auffällt: Die Fotografierten lächeln nicht, sie schauen alle ernst in die Kamera. Für die Porträtierten müssen Treffen mit dem Wanderfotografen ein ganz besonderer Anlass gewesen sein, denn fast immer sind sie sonntäglich angezogen. Areggers Fotos sind in Themengruppen geordnet worden. Da ist die Gruppe der Rad-, Motorrad und Autofahrer. Die Fahrradfahrer stehen neben ihrem Rad, sie fahren nicht. Es sind Fahrräder mit einer einzigen Handbremse und mit einer Rücktrittbremse. Der Verschluss von Areggers Kamera ist wohl zu langsam gewesen, um gelungene Bewegungsaufnahmen machen zu können. Kann aber auch sein, dass es sein Konzept war, ruhige Aufnahmen zu machen. Vielleicht sah sich der Fotograf auch eher als Dokumentarist denn als Künstler. Auffallend für die Zeit vor 1930 ist die Aufnahme einer Motorradfahrerin und eine andere von einer Frau am Lenkrad eines Autos. Auffallend die Familienbilder, auf denen bis zu acht Kinder zu sehen sind. Aufnahmen von Schulklassen fehlen. Selten sind auch Berufsbilder unter den Fotografien: Zweimal Käser, ein einziges Mal ein Wirt mit zwei Frauen, die seine Schwestern sein könnten. Auf einem Bild sind drei Frauen zu sehen, die alle eine Zigarette in der Hand halten, was zu jener Zeit ein Zeichen setzen wollte. Kleine Kinder sitzen auf einem Kuh- oder Schaffell, andere auf einer Decke. Die etwas grösseren Kinder halten zumeist etwas in der Hand, sei es ein Blatt Papier oder kurze Zweige, manchmal halten sie einfach ihr eigenes Kleidungsstück fest. Die freiwillige Feuerwehr ist als Gruppenbild zu sehen. So viele Männer sind es, dass man den Eindruck hat, hier seien die Männer mehrerer Feuerwehren für eine Aufnahme zusammengekommen. Musiker, meist zu dritt, halten ihre Instrumente. Eine Gruppe von Fotografien zeigt Pferde und Kühe, die von ihren Besitzern an einem Strick geführt werden. Dass man die Geschichte seiner Wohnregion anhand der Fotografien schreiben könnte, ist kaum denkbar. Dennoch vermitteln die Bilder starke Eindrücke von den Lebensbedingungen der Region in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Drei Geschwister. Undatierte Fotografie von Josef Aregger.

Gerade weil Areggers Bilder keine Legenden besitzen, lassen sich Interpretationen aufstellen, Geschichten um diese Bilder entwickeln. Rita Kuster, Leiterin des Entlebucherhauses, hat sich ein Bild ausgewählt, das sie so beschreibt: «Am Waldrand sitzen oder stehen acht Männer unterschiedlichen Alters bei einem Holztisch: gekleidet in Hemd und Weste oder in Kitteln, einer sogar mit Schürze und Krawatte, die einen tragen Nagelschuhe, die anderen elegante Halbschuhe. Auf dem Tisch steht eine fast leere Weinkaraffe, daneben ein Phonograph mit aufgelegter Schallplatte, der für die musikalische Untermalung sorgt. Ebenfalls aufs Bild musste eine Ziege, die als einzige nicht in die Kamera blickt. Haben diese Männer etwas zu feiern und schicken sich an, die Gläser zu erheben? Sind es Mitglieder eines Vereins oder einer Genossenschaft nach einer formellen Zusammenkunft? Oder einfach eine spontan zusammengewürfelte Schar, die sich am Sonntagnachmittag getroffen hat, vielleicht zum Tanz. Aber wo sind die Frauen?»

«Leute aus dem Entlebuch. Fotografiert von Josef Aregger, genannt Schluuch-Aregger». Bis zum 15. August im Entlebucher Haus, Kapuzinerweg 5, 6170 Schüpfheim (LU). 

Nachtrag

Josef Aregger hätte Roberto Donetta kennen können. Donetta (1865 – 1932) war Samenhändler und leidenschaftlicher Wanderfotograf. Ihm, der verarmt gestorben ist, war die Fotografie wichtiger als alles andere. Er war in den Dörfern als Händler unterwegs, der ebenso wie Aregger die Menschen seiner Umgebung fotografierte. Nach seinem Tod hinterliess er rund 5000 Glasplatten und 600 Originalabzüge, die das Leben der Bewohner des Tessiner Bleniotals dokumentieren. Als August Sander der Schweiz wurde er von Fotohistorikern bezeichnet. Der Autodidakt, der mit seiner schweren Plattenkamera durchs Tal zog, ist mit seinen eindrücklichen Bildern Chronist des alltäglichen Lebens jener Zeit in einem verarmten Tal. Zwei grossflächige Vergrösserungen zweier Fotos, die er gemacht hat, hängen am Dorfeingang von Corzoneso an Hausmauern und machen auf den Rundbau, das Archivio Fotografico Roberto Donetta, aufmerksam, das jeweils an Wochenenden besucht werden kann.

Eingeworfen am 21.4.2021

3 Kommentare

  1. Areggers Bilder, meiner Ansicht nach szenografisch überaus klug präsentiert, sind ja verrückt – gerade, weil sie so unambitioniert entstanden sind und keinen weiteren Kontext zulassen, im Nachhinein und nach so langer Zeit sowieso nicht. Das lässt einen dermassen verblüfft und beschenkt zurück.

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  2. Ich jg.55 kann mich gut erinnernden an Josef Aregger und seine Besuche auf unserem Hofe im Luz. Hinterland.
    Bin gespannt auf die Fotografien. Schön dass sie Josefs FOTOS einen Platz bieten!

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  3. Schon der Titel macht neugierig, die Anlage mit den Tafeln lädt ein, das erste Bild eine Verheissung: also demnächst ins Luzerner Hinterland. Entdecken.

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