Wollte ein Club in der Schweiz in der Vor-Pandemie-Zeit auf einen Anlass speziell aufmerksam machen, dann traf man im Netz auf den Hinweis, der DJ sei aus Berlin, am liebsten mit dem Hinweis auf den Namen seines dortigen Clubs. Berliner Clubs haben nämlich ein internationales Renommee. Seit Monaten ist es aber in der Clubszene still. Corona hat diese Stille mit sich gebracht. Es kommt einem derzeit vor, als sei die Zeit der Clubs schon längst vorbei: Maskenpflicht und noch mehr das Verbot von Menschenansammlungen in geschlossenen Räumen haben ebenso wie der Gentrifizierungsprozess, dem manche Stadtteile Berlins stark unterworfen sind, eine grosse Stille in der Szene zur Folge. Wie lange noch? Wird die Szene mit dem Ende der Coronazeit wieder aufleben?
Julie Chovin, französische Fotografin in Berlin, kann man als eine Enzyklopädistin der Berliner Clubszene bezeichnen. Denn noch vor dem Corona Lockdown fotografierte sie zwischen 2013 und 2020 rund 220 Clubs in Berlin. Sie orientierte sich dabei an einer „Clubliste“, die auf der offiziellen Website der Stadt Berlin veröffentlicht wurde. Der Titel der dichten Fotosammlung Chovins lautet „The Place to Be“, veröffentlicht als Publikation beim Vexer Verlag (St.Gallen / Berlin). „The Place to Be“ ist der Slogan, den die Stadt für ihre Marketingkampagne gewählt hat.
Wie ein handlicher Architekturführer kommt die Publikation daher: Ein hochformatiges und handliches Buch mit weichem Cover. Zwei Farbfotografien jeweils übereinander pro Doppelseite. Mittelaxial liegen die Bilder im Buchfalz, sie wirken trotz des schmalen Buchformats als seien sie für ein breiteres Buchformat gemacht. Tolle Bilder! Etwas streng wirken sie. Und das ist eine Qualität. Bilder von Häusern und Orten, in denen Clubs beheimatet sind oder waren. Alle Szenen menschenleer. Man fragt sich, an welchen Wochentagen und zu welcher frühstmorgendlichen Tageszeit die Fotografin unterwegs war und diese Bilder aufgenommen hat. Julie Chovin hat wohl darauf geachtet immer ungefähr zu derselben Tageszeit zu fotografieren, so dass die Lichtverhältnisse nicht allzu stark variieren.
Clubbilder zeigen sonst wohl (fast) immer Besucherinnen und Besucher im Innern, die Bar gehör dazu und die Fotos sind dann stets abends oder nachts aufgenommen worden, vielleicht auch erst gegen morgen. Julie Chovin ist da bewusst anders vorgegangen. Innenaufnahmen hat sie keine gemacht. Ist’s das Interesse an der Architektur der Stadt? War da die Absicht zu zeigen, dass Clubs überall sein können, in alten Bauten und in neuen, in heruntergekommenen wie in tadellos intakten. Julie Chovin zeigt mit ihren Fotografien, dass Nachtclubs überall sein können, im Zentrum wie in den Aussembezirken, in Geschäftsbauten oder in Villen. Anstelle von Clubnamen als Bildlegenden weist jedes Bild die geografische Breiteangaben des Aufnahmeortes auf. Erst am Ende der Publikation sind die Namen der über 200 Clubs jeweils mit diesen Breiteangaben angegeben.
Man sieht den Bildern nicht an, welche Art von Club sie beherbergen. Man weiss auch nicht, ob hier oder dort junge oder ältere Besucher verkehren. «Wir haben den Überblick nicht, welche Clubs heute geschlossen sind oder sich örtlich verlagert haben. Bereits in der Projektphase haben abgelichtete Clubs geschlossen und neue sind aufgegangen», sagt Herausgeberin Vera Ida Müller. Eine typische Clubarchitektur ist in den Fotografien nicht zu erkennen. Denn wenn es sie gibt, dann wird sie im Innern der Häuser erst sichtbar. Man sieht den Bildern aber an, wie sehr Berlin immer noch eine Stadt im Wandel ist. Manche Bauten wirken so, als seien sie vor Jahrzehnten zum letzten Mal renoviert worden. Manche Clubs befinden sich in verlotterten Liegenschaften, andere in eleganten Häusern. Jede dieser Aufnahmen macht neugierig. Und auch wenn es mehrheitlich Hausfassaden sind, die im Buch zu sehen sind, man schaut hin, schaut sich die Graffiti und die Hausanschriften genauer an, sucht unweigerlich nach dem Namen des jeweiligen Clubs, wähnt sich mit der Fotografin auf ausgedehnten Stadtwanderungen.
Berlin ist nicht Quedlinburg, Görlitz oder Rothenburg ob der Tauber mit ihren im Krieg unversehrt gebliebenen historischen Stadtzentren. Die Bilder zeigen Grossstadt, wenn auch nicht Wolkenkratzer. Innenhöfe von ehemaligen Fabrikationsanlagen, Bauzäune, hinter denen sich Bauten befinden, moderne Geschäftsbauten, in denen man keine Clubs vermuten würde. Ein wunderbares Kompendium von Hausfassaden tut sich da auf. Von der Backsteinfassade der 1920er Jahre zu Plattenbauten und zu typischen Gebäuden aus der DDR-Architekturzeit, von schicken Cafés zu Hausfronten an Parkanlagen. Man meint, ehemalige Kinos zu entdecken und Autogaragen, entdeckt Ladengeschäfte, hinter deren Schaufenster ein Club gewesen sein muss. Und wenn schon wirklich gar keine Menschen auf den Bildern zu sehen sind, dann sind es abgestellte Fahrräder und geparkte Autos. Während in der Schweiz – mit Ausnahme von Unterführungen und Häusern auf den minderen Seiten der Stadtbahnhöfe – Graffiti schnell übertüncht und wilde Plakate abgehängt oder ausnahmsweise als Kunstwerke sanktioniert werden, lebt die Berliner Fassadenlandschaft von Graffiti und Plakaten aller Art. Und weil man auf den Bildern nur selten den Namen der Clubs findet, greift man zum Index der Nightclubs in Berlin der Jahre 2013-2020 hinten im Buch und begibt sich in eine Kaskade schöner Namen wie Lauschgift, Amber Suite, Beate Uwe, Birgit & Bier, Bulbul, Freischwimmer, Kleine Reise oder Zur Klappe.
Gestaltet hat das Buch Daniel Rother. Boris Grésillon, Forscher in Sachen Mobilität und Migration sowie Soziologin Séverine Marguin, beide ebenso aus Frankreich stammend wie Fotografin Julie Chovin, haben je einen Text zu den Fotografien beigesteuert. Ob es der Blick von aussen ist, der erst eine so lebendige Sichtweise ergibt? Ach ja, Verlegerin Vera Ida Müller ist eine Schweizerin, auch sie in Berlin hängengeblieben und dort an der Arbeit.
Julie Chovin: The Place to Be. Nightclubs in Berlin 2013-2020
ISBN: 978-3-907112-29-8 / Chf 30 / Euro 32. Das Buch ist über den Buchhandel erhältlich und kann direkt über den Verlag bestellt werden. https://www.vexer.ch/
Eingeworfen am 29.3.2021
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